CARSTEN HENN: „DIE BUTTERBROTBRIEFE“


Kati Waldstein, geschiedene Rathausangestellte von 39 Jahren, will weg aus ihrem Heimatort. Vorher aber nimmt sie auf ungewöhnliche Weise Abschied von einer Reihe von Menschen und das Besondere daran: sie tut es mit Briefen. Die sie persönlich zum Adressaten bringt und ihm vorliest.
Mit Brief Nummer 31 beginnt der neue Roman von Carsten Henn, der nicht von ungefähr den Titel „Die Butterbrotbriefe“ trägt. Kati schreibt alle Briefe auf gebrauchtem Butterbrotpapier, das ihr Vater einst für sie gesammelt und gesäubert hat.
Eben um Briefe darauf zu schreiben, wie es sonst kaum noch jemand tut. Katis aber sind gewissermaßen Abrechnungen mit Menschen, die auf ihrem Lebensweg mit kleinen oder auch großen Dingen prägend waren. Wie jetzt die Lehrerin, die damals mit ihrer Beurteilung verhinderte, dass Kati zum Gymnasium durfte.
Meist schreibt sie sogar noch handschriftlich. Außer bei solch bitteren wie an die Lehrerin. Oder an den Priester, der eine solch gleichgültige Trauerrede am Grab ihrer Mutter gehalten hatte. Obwohl Kati von ihr nie viel Zuwendung bekam, worunter sie besonders litt, seit der versponnene liebevolle Vater betrunken neben seinem heruntergewirtschafteten Kino erfroren war.
Seit vier Jahren ist Kati nun vom gleichgültigen Achim geschieden und geblieben sind ihr nur zwei Lichtblicke: der liebevolle aber ziemlich skurrile Onkel Martin, der eigentlich Versicherungen verkauft, in erster Linie aber sein Arktismuseum „Svenssons Polarwelt“ betreibt. Und dann ist da der Frisiersalon von Madame Catherine und deren Damen. Durch die sie das Haareschneiden gelernt hat, das sie nun einmal wöchentlich als Dienst der Nächstenliebe auf dem Markt Obdachlosen gratis zugute kommen lässt.
Nun aber geschehen Dinge bei ihrem Abnabeln von der Heimat, die so manchen Blickwinkel ändern. Wie die Reaktion der Klassenlehrerin auf Brief Nummer 31, denn – der Vorwurf trifft nur halb. Sie war mit schlechtem Gewissen einzig dem Drängen der Mutter gefolgt. Und Kati findet im Gefolge eines späteren Briefes noch mehr Verrat der Mutter heraus, hatte die doch selbst bei der Eheschließung ihre Finger als eigensüchtige Kupplerin mit im Spiel gehabt.
Zugleich aber lässt Kati das Schicksal – an das sie übrigens nicht glaubt – beim Haareschneiden auf dem Markt auf den wortkargen Severin treffen. Wie dieser durch Schicksalsschläge vom feinsinnigen Klavierstimmer zum ziellosen Landstreicher gewordene Musikliebhaber sich ihr nähert und zunächst fast unmerklich ihrem Lebensweg eine andere Richtung gibt, das ist hinreißend und dabei ohne falsche Gefühligkeit geschrieben.
Zumal es die letzten sechs Briefe Katis bis zum Fortgehen in sich haben mit ungeahnten Erkenntnissen, die vieles in einem sehr anderen Licht erscheinen lassen. So gab es zutiefst menschliche Gründe, die die Kälte der Mutter verstehbar machen. Und es geschieht Unvorhergesehenes, das das Füllhorn der Gefühle auf spannende und zugleich glaubhafte Weise noch weiter öffnet.
Mehr darf einfach nicht verraten werden von diesem warmherzigen Roman, der seine liebevolle Geschichte mit graziöser Leichtigkeit, subtilem Humor und bei all dem mit Ernst und Tiefe erzählt. Fazit: ein Wohlfühlbuch von ganz hohen Qualitäten.

# Carsten Henn: Die Butterbrotbriefe; 255 Seiten; Piper Verlag, München; € 20

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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