STEPHEN KING: „HOLLY“


Das muss man erst mal draufhaben, einen großen opulenten Krimi mit einer Art Prolog zu eröffnen, der die beiden zentralen Bösewichter bereits vorweg vorstellt. Aber ein Stephen King ist ein Magier auf dieser Klaviatur und es sei vorweg gesagt: er verrät zwar die Typen, aber kaum mehr als den Ansatz ihres Verbrechens.
Ein Akademiker wird beim Joggen von einem betagten Paar betäubt, entführt und er wacht in einem Käfig auf. Das passiert im Oktober 2012, doch das eigentliche Geschehen startet erst im Sommer 2021 in einer etwas verblühten Großstadt Ohio,bei der sehr vieles auf Cleveland hindeutet.
Der Titel des Romans lautet „Holly“ und gemeint ist die Privatermittlerin Holly Gibney, die King seit „Mr. Mercedes“ bereits mehrfach ins Feld geführt hat. Sie ist mittlerweile 55 und hat soeben die Online-Trauerfeier für ihre Mutter hinter sich, mit der sie von klein auf ein sehr schwieriges Verhältnis hatte.
Die alte Dame ist als Trump-Verehrerin und hartleibige Impfgegnerin an Corona gestorben und die zu dieser Zeit wild grassierende Pandemie spielt bei den folgenden Ermittlungen eine dauerpräsente Rolle. Zu denen lässt sich Holly hinreißen, weil sie schlecht Nein sagen kann und der Partner ihrer Detektei mit Corona ans Bett gefesselt ist.
Da fleht eine Penelope Dahl um Hilfe, weil ihre Tochter seit drei Wochen verschwunden ist. Die Polizei unternimmt nichts, weil diese Bonnie ersten schon 24 ist und zweitens einen Zettel an ihrem aufgefundenen Fahrrad hinterließ, der Besagte: „Ich habe genug.“
In die ersten Ausführungen zu Hollys Ermittlungen sind nun Einblendungen zu dem alten Paar eingestreut, die zunehmend für Grusel sorgen. Emily Harris ist Literaturprofessorin und ihr Mann Rodney Biologe und Ernährungswissenschaftler, Beide sind über 80 und leiden unter typischen Altersgebrechen, gestig aber sind die renommierten Akademiker noch hellwach.
Mit dem nächsten Entführungsfall, diesmal ein paar Jahre später und noch infamer als der von 20212, wird wieder ein Stück deutlicher, welch monströse Gedankenwelt hier plastisch umgesetzt wird. Die im Käfig gefangenen Opfer dienen als spezielle Apotheke.
Und der Grusel wird genüsslich millimeterweise geschürt, wenn da Salben gegen Arthritis aus Menschenfett und das Dessert aus Pudding und Hirnmasse für neue Frische sorgt. Vor allem aber die Leber – sie erklärt der Herr Professor zum Heiligen Gral und Sakrament fürs Leben. Aber auch sonst darf kein Teil des Schlachtviehs vergeudet werden.
Das Perfide an dem allmählich immer ausführlicheren Kapiteln im Wechsel der Zeitebenen ist dies Vertraulichkeit, die King zu diesem widerwärtigen Paar in all seiner Innigkeit aufbaut, indem er sie genüsslich wie gute alte Freunde nur noch „Em“ und Roddy“ nennt.
Derweil Holly nur bruchstückweise vorankommt, zugleich aber wiederholt gerade auch von Psychomacken wie extremer Ordnungssinn und Hypochondrie profitiert, die sie durch die dominante Mutter entwickelt hat. Stutzig wird sie endgültig, als sie bald eine ganze Reihe ungeklärter Vermisstenfälle von sich hat und rätselt, ob und wie sie miteinander zu tun haben könnten.
Auch dramaturgisch nehmen die Verknüpfungen zu und dann gerät Holly selbst ins Visier der Alten, die nämlich auch digital noch von beträchtlicher krimineller Energie sind. Der gant reale Horror treibt da längst auf ein hochspannendes Finale zu.
Mit hervorragenden Charakterzeichnungen und stets begleitet von dieser allgemeinen Atmosphäre der Zerrisenheit zwischen Corona-Wüten und Trump-Irrsinn im ganzen Land hat Stephen King hier ein erneutes Krimi-Meisterwerk geschaffen. Für dessen Lesegenuss man allerdings nicht zu zartbesaitet sein sollte.

# Stephen King: Holly (aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt); 640 Seiten; Heyne Verlag, München;
€ 28

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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