MEIR SHALEV: ERZÄHL'S NICHT
DEINEM BRUDER
Alljährlich im Frühherbst besucht Itamar Diskin seine israelische Heimat und jeweils
eine Nacht ist dann eine Nacht der Brüder in einem Hotel am Meer. Dort trifft er sich mit
dem etwas jüngeren Boas und sie ergehen sich in Erinnerungen an die Eltern und so manche
Amouren des Älteren.
Solch eine Nacht beschreibt Meir Shalev (1948-2023) in seinem letzten Roman
Erzähl's nicht deinem Bruder. Man schreibt das Jahr 2010, Ich-Erzähler
Itamar und sein Bruder Boas sind Mitte 60, doch diesmal ist etwas sehr anders. Ebenso
außergewöhnlich wie die Schönheit Itas, unter der dieser eher leidet, obwohl sie ihm
immer wieder nicht nur bei den Frauen Türen geöffnet hat.
Tatsächlich erzählt er dem Jüngeren, der brav verheiratet ist, sich aber gern an den
Sexgeschichten Itas delektiert, in dieser Nacht bei viel Feigenschnaps von einer heftigen
Liebesnacht, die ihm vor 20 Jahren im Sinne des Wortes widerfahren ist. Eine attraktive
jüngere Frau hatte ihn auf nur kurzem Umweg abgeschleppt, weil sie sich in sein Aussehen
verliebt hatte.
Natürlich bringen die Brüder immer wieder zwischendrin auch Erinnerungen an ihre Jugend
und an die längst verstorbenen Eltern ins Gespräch. Vor allem deren stete Ehehakeleien
mit manch unterschwelliger Giftigkeit selbst bei Petitessen wie zum Beispiel Mutters
Nörgeln an Vaters grundsätzlichem Stehpinkeln.
Die Sympathien der Eltern waren im Übrigen sehr klar aufgeteilt, denn Boas war Vaters
Sohn und Ita Mutters. Was das Verhältnis der Brüder jedoch trotzdem hatte recht gut
gedeihen lassen. Mit manchen zwischen den Beiden später mit wechselndem Vergnügen
offenbarten Geheimnissen, die der jeweilige Elternteil seinem Favoriten anvertraute mit
der strikten Mahnung: Erzähl's nicht deinem Bruder.
In dieser Brudernacht im Frühherbst 2010 aber wird einer der Brüder dem anderen ein
wahrlich dunkles Geheimnis eröffnen. Das sie nicht wirklich entzweit und doch fühlt sich
einiges danach anders an. Was allerdings auch mit der seltsamen Liebesaffäre von 1990 zu
tun hat. Wobei eine Schwäche Itas eine entscheidende Rolle spielt: bei aller objektiver
Schönheit ist er kurzsichtig wie ein Maulwurf.
Nun schleppte ihn also diese Sharon ab. Die erotischen Szene zwischen ihnen sind exzellent
geschrieben und zugleich auf hinreißende Weise so zerdehnt und mit den Dialogen der
Brüder und Erinnerungsfetzen verschränkt, wie es nur einem Meister wie Meir Shalev
gelingen kann.
Und schließlich gesteht Ita, der nie den Verlust seiner großen Liebe Michal verwunden
hat die sich nach fünf Jahren des Glücks einfach so von ihm trennte dass
Sharon in ihrem Haus mitten in der Wildnis ein schmähliches Spiel mit ihm getrieben habe.
Vor Beginn des erlesenen Liebesspiels hatte sie Ita die Brille abgenommen. Und auch, weil
er nicht auf alle ihre Wünsche für das Danach einging, ließ sie ihn nun ohne seine
Brille verzweifeln. Die Nacht eskalierte zum ziemlich bösartigen Scherz und natürlich
haben auch lang gehegte, sehr weibliche Rachegelüste damit zu tun.
Zur Meisterschaft der faszinierenden Dramaturgie, die komplex ist und sich doch nie
verwirrt, kommen hier die exzellenten Figurenzeichnungen durch den studierten Psychologen.
Fazit: ein ungewöhnlicher letzter Geniestreich eines großen Romanciers und obendrein
hochkarätig von der wie immer großartigen Ruth Achlama ins Deutsche übertragen.
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