ALEX J. KAY: „DAS REICH DER VERNICHTUNG“


Eine wahnsinnige Ideologie war das Motiv für den Holocaust, die systematische staatlich organisierte Vernichtung von insgesamt rund 6 Millionen Juden durch das NS-Regime. Doch die Nazis betrieben weiteren Massenmord in einer mindestens genauso großen Größenordnung und das aus gnadenlosem Nützlichkeitsdenken.
Der britische Historiker Alex J. Kay, der an der Universität Potsdam lehrt und Fellow auf Lebenszeit der Royal Historical Society ist, legt dazu die erste integrative Chronik vor, die die gesamte Bandbreite dieses beispiellosen Massenmordes darlegt und wissenschaftlich untermauert.
„Das Reich der Vernichtung“ lautet der Titel und das Werk steht gemäß Untertitel für „Eine Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordes“. Ohne den Holocaust als größtes Verbrechen der Menschheitsgeschichte im mindesten marginalisieren zu wollen, stellt der Experte für den Nationalsozialismus diesem ideologisch auf ethnische Eliminierung ausgerichteten Genozid jene anderen Millionen Opfer unter Zivilisten und Nichtkombattanten quasi zur Vervollständigung des Gesamtbildes zur Seite.
Stand bei der Judenvernichtung das Vergasen als Methode an vorderster Stelle, kommen bei den anderen Hauptgruppe im wesentlichen Massenerschießungen und Aushungern zur Anwendung. Schon vor Kriegsbeginn begann die Vernichtung von rund 300.000 behinderten Menschen sowie von 200.000 Roma und Sinti. Gleich nach der Eroberung Polens setzte die Vernichtung von 100.000 Mitgliedern der Elite ein, denen weitere 185.000 polnische Zivilisten folgten.
Die ganz großen Opferzahlen aber verursachte das gezielte Massenmordprogramm durch Aushungern von Menschen in der Sowjetunion. Das betraf rund 2 Millionen Zivilisten, die vorsätzlich als „unnütze Fresser“ durch Unterernährung getötet wurden. Und es richtete sich in voller programmatischer Ausrichtung gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen mindestens 3,3 Millionen durch Aushungern und in schutzlosen Lagern im Freien zu Tode gebracht wurden.
Zweifel gibt es zu diesen Tatsachen nicht, denn das meiste ist nicht nur hinreichend mit Fakten belegt – der überwiegende Teil dieser Dokumentationen wurde sogar von den Tätern selbst angelegt. Eine Ernährung der gefangenen Soldaten und auch noch der Zivilisten hätte wegen des eigenen Bedarfs dem Kriegserfolg im Wege gestanden. Und schon im September 1941 erklärte Alfred Rosenberg, Beauftragter für die Ostgebiete, dass die Bestimmungen der „Haager Landkriegsordnung von 1907“ -
jeder Kriegsgefangene ist mit Menschlichkeit zu behandeln – keine Gültigkeit in den besetzten Gebieten habe.
Fest steht aber auch, dass für die systematische Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen nicht SS oder andere NS-Gruppierungen zuständig waren sondern – die Wehrmacht, die sich nach dem Krieg gern und entschieden als „sauber“ hinsichtlich von Kriegsverbrechen bezeichnete.
Sie ist es im Übrigen auch, die bei den vielen anderen, zahlenmäßig nicht so voluminösen und meist weniger bekannten Verbrechen schuldig gemacht hat. Da wurden zum Beispiel nach der Eroberung der Insel Kreta 1941 reihenweise ganze Dörfer ausgerottet. Auch hier waren Vergeltungsmaßnahmen integrativer Bestandteil der Kriegsführung.
Erschüttern die Fakten und Darstellungen schon in ihrer wissenschaftlich nüchternen Fassung, so sind die zahlreichen Originalaussagen von Überlebenden oder deren überlieferte Aufzeichnungen schier unerträglich. Fazit: ein schrecklicheres Buch ist kaum denkbar, zugleich ist dieses herausragende Standardwerk zum Thema ein äußerst wertvoller und unverzichtbarer Pfeiler der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus.

# Alex J. Kay: Das Reich der Vernichtung. Eine Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordens (aus dem Englischen von Thomas Bertram); 455 Seiten, div. SW-Abb.; wbg Theiss Verlag, Darmstadt; € 38

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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