TRACEY LIEN: ALL DIE
UNGESAGTEN DINGE
Ky Tran arbeitet als Journalistin in Melbourne. Nun aber musste sie nach Hause eilen nach
Cabramatta, einem westlichen Stadtteil Sydneys. Dort wuchern in den 90er Jahren
Drogenkriminalität und Bandenkriege. Dass ihr 17-jähriger Bruder Dennis hier bei der
Schulabschlussfeier in einem angesagten Restaurant zu Tode geprügelt wurde, ist völlig
unglaublich aber bittere Wahrheit.
Mit der dumpfen Starre der Trauerfeier im kleinen Haus der Eltern beginnt nun all
die ungesagten Dinge, der Debütroman von Tracey Lien. Sie ist selbst
vietnamesischer Herkunft und wuchs in diesem Stadtteil auf, in dem allein ein Drittel der
Bevölkerung dieselben Wurzeln hat.
Die Konflikte, die sich daraus ergeben, dass sie wie die meisten der anderen ebenfalls
asiatischen Einwanderer sich vielfach selbst nach Jahrzehnten hier nicht assimiliert haben
und wo sich die Älteren wie in Familie Tran mangels Sprachkenntnissen von ihren Kindern
üebrsetzen lassen. Erschwerend kommen das Desinteresse und der Alltagsrassismus der
weißen australischen Polizisten hinzu, die sich sehr zurückhalten, wenn es Verbrechen
zwischen Asiaten geht.
Wie beim Mord an Dennis Tran in dem vietnamesischen Restaurant. Der nach Kys fester
Überzeugung völlig unschuldig in den Konflikt geraten sein muss, denn allem Anschein
nach war er kein Junkie sondern vielmehr soeben als Vielversprechendster
Schüler ausgezeichnet.
Da die Eltern in Dumpfheit verfallen sind und der versoffene Vater nicht einmal verstanden
hat, was die Polizei über den Tathergang berichtet hatte, nimmt Ky eigen Nachforschungen
auf. Ihr als voll assimilierter Frau mit richtigem australischen Englisch und den Talenten
der ehrgeizigen Nachwuchsjournalistin gelingt es auf dem Polizeirevier tatsächlich, beim
zuständigen Constabler nicht nur Gehör zu finden. Unter der Hand schustert er ihr sogar
Kopien seiner Aufzeichnungen zu.
Ky beginnt eine regelrechte Detektivarbeit, die teils frustrierend ist und teils in Leere
läuft. Oder auch heikel wird. Zugleich komme ihr Zweifel, ob sich Dennis in den Jahren,
seit sie nach Melbourne ging, womöglich doch sehr zu seinen Ungunsten verändert hat. 17
Personen waren im Lokal, als er totgeprügelt wurde, und niemand hat etwas gesehen oder
gar eingegriffen?
Doch der eigentliche Kriminalfall ist hier bei allen Geheimnissen und Spannungsmomenten
nicht wirklich die Hauptsache. Vielmehr steht diese Fremdheit der Einwanderer im
Mittelpunkt, die sich nicht assimilieren und auch nicht assimiliert werden. Wie Kys
Eltern, die in ihren alten Gebräuchen und Denkweisen gefangen und völlig fremd in der
neuen Heimat bleiben, weil sie allenfalls unter ihresgleichen verkehren.
Tracey Lien erzählt das in einem breiten Erzählfluss mit kollagehaften
Perspektivwechseln und ganz entscheidend für die Qualitäten dieses Debüts ist, dass sie
aus eigenem Erleben schreibt und deshalb alles sehr authentisch wirkt.
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