EMILY St. JOHN MANDEL: DAS
MEER DER ENDLOSEN RUHE
Der englische Aristokratensohn Edwin wird 1912 wegen eines politischen Ausrutschers nach
Kanada verbannt. Auf einer Reise in die dortige Wildnis begegnet er dem
Seltsamen: plötzlich befindet er sich in einer Art rieisger Kuppel eines dunklen
Lichtblitzes. Und er hört einen Anflug von Geigenklängen und merkwürdiges kurzes,
undefinierbares Rauschen.
Wie aus einer Ohnmacht erwacht er, eilt davon und in eine Kirche. Wo ihm der junge
Priester Gaspary Roberts mysteriöse Fragen stellt. Als Edwin misstrauische Gegenfragen
äußert, erweist sich das alles eine sehr flüchtige Begegnung im Sinne des Wortes.
Und ist erst das Eröffnungskapitel zu Emily St. John Mandels neuem Roman Das Meer
der endlosen Ruhe. Gemeint ist mit dem Titel das Mare Tranquillitatis nahe der
Stelle, an der einst das Raumschiff Apollo 11 auf dem Mond landete. Im Jahr
2401 aber befindet sich dort auch eine Mondkolonie, zu der auch das Zeitinstitut gehört,
das für Zeitreisen zuständig ist.
Auf Umwegen über seine blitzgescheite Schwester Zoey, die als Wissenschaftlerin für das
Institut arbeitet, wird Gaspary-Jacques als eine Art Detektiv auf Reisen in verschiedene
Jahrhunderte geschickt. Er soll Anomalien nachspionieren, die zu anderen Zeiten passiert
sind und zum Kollaps der Simulationen führen könnten.
So taucht Gaspary mal als Priester, mal als Journalist, Straßenmusiker und anderes mehr
in der Vergangenheit auf. Wie 1912 im kanadischen Urwald, wo der Anflug des Geigenspiels
und das Wuuusch eines startenden Luftschiffes nicht hätten erscheinen
dürfen, weil sie zwar existieren wie spätere Interviews beweisen aber erst
in folgenden Jahrhunderten.
Gaspary begegnet Edwin im Übrigen 1918 noch einmal. Inzwischen hat der seine Brüder und
ein Bein im Krieg verloren. Auch wegen seiner Vision droht ihm jetzt die Einweisung in
eine Anstalt. Hier nun verstößt Gaspary gegen strikte Regeln des Zeitinstituts, denn
jeglichen Zeitreisenden ist es strikt verboten, in Zeitabläufe ändernd einzugreifen.
Gaspary aber sorgt dafür, dass Edwin doch nicht eingeliefert wird. Was seinen weiteren
Lebenslauf jedoch nur unwesentlich verändert, denn kurz darauf verstirbt er wie
vom Schicksal vorprogrammiert an der Spanischen Grippe. Gaspary dagegen taucht nach
weiteren Stationen im Jahr 2203 als Vertreter des Zufalls-Magazins bei der
Schriftstellerin Olive bei deren Lesereise auf.
Sie kann es kaum fassen, dass er genauso heißt wie eine Figur in ihrem Roman, den sie
gerade erfolgreich vorstellt. In dem sie im Übrigen die Geschehnisse um eine
Grippe-Pandemie thematisiert. Und dann fragt sie dieser ominöse Typ nicht nur, woher sie
die Ideen zu dem Geigenspiel in einem Flughafen im Roman hatte er flüstert ihr
auch noch eine Warnung zu, sofort zurück zu ihrer heimatlichen Mondkolonie zu fliegen, da
auf Erden SARS 12 drohe.
Dies Alles aber wird weit verschachtelter und vielschichtiger erzählt, als es sich hier
anhört. Die kanadische Erfolgsautorin hat die Zeitsprünge und die Jahrhunderte samt der
fernen Gegenwart von 2401 elegant ausgestaltet. Das klingt zu Recht nach ScienceFiction,
kommt jedoch gänzlich ohne Techno-Schnickschnack aus und ist so geschrieben, dass diese
Gegebenheiten ganz natürlich erscheinen. Um so mehr faszinieren die irren Wendungen und
die verblüffenden, teils verwirrenden Paradoxien um Anomalien und ihre Folgen.
Wenn dann als eine von etlichen philosophischen Fragen die aufkommt, was es denn zu
bedeuten habe, wenn alles nicht real sei: Auch ein in einer Simulation gelebtes
Leben ist ein Leben. Und natürlich ist es ein komplexes moralisches Problem, ob man
in die Vergangenheit eingreifen darf. Um zum Beispiel jemanden zu retten zu Lasten
eines Anderen?
Gaspary jedenfalls wird auf adäquate Weise für seine entsprechenden Verfehlungen
bestraft, indem er in einem falschen Jahrhundert strandet und sogar hinter Gittern landet.
Doch nicht nur sein Schicksal fesselt bis zuletzt und man verfällt dieser seltsam
schwebenden Art, die diesen so komplexen Roman selbst mit seiner vermeintlich verqueren
Logik zu einem literarischen Hochgenuss macht.
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