ANTONY BEEVOR: „RUSSLAND“


Wie sehr schon in den Jahren nach der Oktoberrevolution viele Konfliktfelder entstanden, die immer wieder und insbesondere aktuell auch beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die Politik prägten, hat der renommierte britische Militärhistoriker Antony Beevor in einem bereits preisgekrönten Meisterwerk dargestellt.
„Russland. Revolution und Bürgerkrieg 1917 – 1921“ ist das gewaltige Kompendium überschrieben. Beevor beginnt im Jahr 1912 und macht deutlich, wie es im zaristischen Russland mit seinen eher stoischen und unterwürfigen Massen im Laufe des immer fataler laufenden Weltkriegs erst bis zur Februarrevolution 1917 kommen konnte, und wie dieser Umsturz in die Oktoberevolution führte.
Wobei Lenin und seine Bolschewiken weder die größte noch die stärkste der widerstreitenden revolutionären Gruppierungen waren. Das Chaos wogte hin und her und hätte sie hinwegfegen können, bevor sie die Macht überhaupt in den Griff bekamen. Es war eine historische Mischung aus Glück, der Unfähigkeit der „Weißen“ und der hemmungslosen Brutalität und Grausamkeiten, mit der die Bolschewiken vorgingen.
Wie sie sich die Macht erkämpften und dann in die große Demütigung von Brest-Litowsk schlitterten und dann in einen über vier Jahre dauernden Bürgerkrieg mit insgesamt rund 12 Millionen Toten, das gehört zu den komplexesten politischen und militärischen Epochen des 20. Jahrhunderts. Da wurden Grenzen neu gezogen, als Lenin den Krieg beenden wollte und das Deutsche Reich im Dezember 1917 Weichenstellungen diktierte, die eigentlich unannehmbar waren.
Und kaum saßen Mittelmächte und Bolschewiki am Verhandlungstisch, erschien eine ukrainische Delegation und wollte die Ukraine lieber zu einem Protektorat der Deutschen machen, als weiter unter russischer Herrschaft zu stehen. Die von Trotzki als „Annexionsfrieden“ geschmähte Karte der neuen Grenzziehungen, die das deutsche Oberkommando am 5. Januar 1918 vorlegte, forderte neben der Unabhängigkeit Polens, der Baltenstaaten und Finnlands eben auch die der Ukraine. Doch im gesamten zerfallenen Zarenreich tobte längst der Bürgerkrieg, anfangs insbesondere zwischen der Roten Armee der Bolschewiki und der zaristischen „Weißen Armee“ des Admirals Koltschak. Das barbarische Ringen hatte jedoch umgehend eine kaum überschaubare Zahl von Kriegsparteien. Während einerseits die Mittelmächte große Teile des Nordwestens eroberten, wogte das Geschehen im ganzen Riesenland unablässig hin und her.
Da intervenierten alliierte Truppenkontingente unter anderem aus Großbritannien, Frankreich, den USA und Japan auf Seiten der Weißen, andererseits kämpften ganze Kosaken-Armee für ein eigenes Reich. Jeder dieser Feldzüge wurde nicht nur in unaufhörlichen Schlachten ausgefochten, sie waren stets auch begleitet von unfassbaren Gräueltaten an Gefangenen wie Zivilisten. Wobei Historiker Beevor konstatiert, die Weißen seien zwar furchtbar gewesen: „Aber in puncto rücksichtsloser Unmenschlichkeit waren die Bolschewiken unschlagbar.“
Beevor lässt dabei neueste Archivfunde einfließen, so dass er nicht nur exzellente Charakterstudien zahlreicher wichtiger Akteure eröffnet, sondern auch authentische Schilderungen unmittelbar Beteiligter. Die immer wieder schaudern lassen mit den bestialischen Massakern an hunderttausenden von Menschen.
Es ist belegt, dass seitens der Bolschewiki die offene Grausamkeit gezielt als Terrorwaffe eingesetzt wurde. Um so erstaunlicher erscheint da der wilde Polnisch-Russische Krieg, bei dem das eben neu erstandene Polen unter Marschall Pilsudski die Russen besiegte und sie zu einem bitteren Friedensvertrag zwang.
Doch selbst als die Bolschewiki im November 1920 endgültig die ganze Macht an sich gerissen hatten und die Weißen wie die ausländischen Truppen verschwanden, tobten weitere Unruhen ähnlich dem Beginn der Revolution im Land wie der Matrosenaufstand von Kornstadt, die erneut zehntausende von Opfern kosteten.
Dieses Buch ist eine Chronik des Schreckens, die Antony Beevor hier ebenso akribisch wie anschaulich mit all ihren Winkelzügen, dem unvorstellbaren Barbarentum aller Seiten und all den bis heute nachwirkenden Machtverschiebungen ausbreitet. Fazit: dies ist das Non-plus-ultra als Standardwerk zum Thema und aller geschilderter Widerwärtigkeit von großer Faszination.

# Antony Beevor: Russland. Revolution und Bürgerkrieg 1917-1921 (aus dem Englischen von Jens Hagestedt); 669 Seiten, div. SW-Abb.; C. Bertelsmann Verlag, München; € 40

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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