VIRGINIA HARTMAN: „TOCHTER DES MARSCHLANDS“


Loni Mae Murrow war zwölf Jahre alt, als ihr geliebter Vater Boyd mit dem Boot in die Sumpflandschaft des Marschlandes im Nordwesten Floridas hinausfuhr und nicht wieder heimkehrte. Im Gegensatz zu ihrem damals gerade geborenen Bruder Phil kennt sie die Gerüchte, der Unfall sei in Wirklichkeit ein Suizid gewesen.
Inzwischen lebt sie im fernen Washington, DC, wo sie einen Beruf nach ihren besonderen Talenten fand: sie kann Vögel so realistisch zeichnen, dass man meint, sie flögen wirklich. Und diesen Job übt sie am Naturkundemuseum des berühmten Smithsonian Institute aus. Hier nun erreicht sie einen Tag nach ihrem 36. Geburtstag der Anruf von Bruder Phil, sie müsse nach Hause eilen, denn die zunehmend demente Mutter musste in ein Pflegeheim und habe sich dort das Handgelenk gebrochen.
Damit beginnt „Tochter des Marschlands“, der Debütroman von US-Autorin Virginia Hartman. Ich-Erzählerin ist Loni selbst und sie berichtet lebensnah mit manch sarkastischem Unterton. Höchst ungern lässt sie sich auf die ihr zustehende Familienauszeit ein, denn bewusst hat sie als junge Erwachsene der kleinen provinziellen Heimatstadt Tenetkee den Rücken gekehrt.
Es sind nicht nur die schmerzlichen Erinnerungen an den Vater, dem sie den mutmaßlichen Selbstmord nicht verzeihen kann. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war schon vorher kompliziert und von deren Gefühlskälte geprägt. Und das Miteinander ist jetzt durch die Demenz eher noch komplexer geworden. In ihren Fluchtgedanken findet Loni nur mit Kanufahrten ins Marschland Beruhigung, in jene Sumpflandschaft, die sie damals mit ihrem Vater so intensiv erkundete.
Und die beschreibt die „Vogelkünstlerin“, als die sie sich selbst bezeichnet, mit großer Vielfalt und Detailkenntnis. Auch ihre Illustrationsarbeit, die sie in der kleinen Mietwohnung fortsetzt, schildert sie in aller Sorgfalt mit immer wieder faszinierender Genauigkeit.
Die einzigartige Landschaft, die Fauna und Flora werden so zu einem zunehmend fesselnden Element des Romans. Der eher gemächlich Fahrt aufnimmt, um dann eine unentrinnbare Sogwirkung zu entfalten. Zumal sich neben dem eigentlichen Grund für ihr Hiersein einiges tut. Das Elternhaus muss geräumt werden, zugleich stellt Loni eine Menge Fragen. Was offenbar manchen nicht gefällt, denn es kommt zu Anfeindungen.
Unterstützung findet sie dagegen beim damaligen Chef ihres Vater, Captain Chapelle von der Fischerei- und Jagdaufsicht. Von ihm erhält sie auch die Andeutung, man habe damals im Aktenbericht dafür gesorgt, dass die Angelegenheit ein Unfall im Dienst gewesen sei – wegen der Rente für die Familie.
Doch Loni stößt beim Entrümpeln immer wieder auf teils kryptische Hinweise zu dem Todesfall. Und während der von allen gemiedene alte Nelson von Verschwörungstheorien faselt, macht Loni einen rätselhaften Fund, der sie nun endgültig nicht mehr ruhen lässt. Da ist eine kurze Briefnotiz von einer „Henrietta“ an ihre Mutter – es gebe da etwas, das sie ihr über den Tod Boyds erzählen müsse.
Mittlerweile wird sie einerseits sogar schon konkret zum Verschwinden aufgefordert. Andererseits sorgt Phil, mit seinen 24 Jahren bereits Steuerberater, für Aufruhr wegen der Kosten für Mutters Heimaufenthalt. Der sei einfach zu teuer, deshalb müssten sie vom Staat Florida eine Entschädigung fordern, weil es doch ein Dienstunfall gewesen sei.
Fieberhaft versucht Loni, Genaueres herauszubekommen, bevor die Behörden die Tatsache des Suizid öffentlich machen. Die Qanfeindungen nehmen zu, als sie aufgenommene Spuren verfolgt, und das steigert sich bis in ein dramatisches Finale mit immer neuen Überraschungen.
Begleitet wird das Geschehen nicht nur durch bildgewaltige Naturschilderungen – es entwickelt sich auch eine Liebesgeschichte, die gerade in ihrer spröden Schüchternheit überzeugt. Geschrieben ist das Alles lebensnah mit poetischen Momenten, während in den Dialoge manche Funken sprühen.
Und natürlich erinnert dieser Roman von seinem Setting wie auch von der ausgiebigen Rolle von Fauna und Flora in Florida her an Delia Owens' „Der Gesang der Flusskrebse“. Der Debütroman Virginia Hartman mag literarisch nicht auf dem Niveau des Weltbestsellers sein, aber er ist mindestens ebenso spannend. Fazit: ein ganz großes Lesevergnügen, insbesondere für Naturfreunde.

# Virginia Hartman: Tochter des Marschlands (aus dem Amerikanischen von Frauke Brodd); 463 Seiten; Heyne Verlag, München; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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