NIKOLE HANNAH-JONES (Hrsg.): "1619“

 
Im August 1619 landete die Galeone „White Lion“ im Hafen von Jamestown, Virginia. Von ihr gingen 20 bis 30 Schwarze aus dem afrikanischen Angola an Land: die ersten Sklaven für die weißen Siedler der englischen Kolonie, denen noch viele hunderttausend folgen sollten.
1619? Die junge gebildete Afro-Amerikanerin Nikole Hannah-Jones stutzte in den 90er Jahren, als sie erstmals von diesem Ereignis hörte. Wie den meisten ihrer Landsleute war ihr dieses grundlegende historische Datum noch nie begegnet. Und schließlich begriff sie, „dass das Fehlen der Jahreszahl in der gängigen Geschichtsschreibung Absicht sein musste.“
Inzwischen ist Hannah-Jones nicht nur Professorin mit einem Lehrstuhl für Rasse und Journalismus an der Howard Universität. Im Rahmen ihrer Arbeit für das „New York Time Magazin“ initiierte sie das „1619 Project“, mit dem sie und Dutzende angesehener Wissenschaftler und Publizisten diese vernachlässigte Jahreszahl und ihre Folgen erforschten und bekannt machten.
Zum 400. Jahrestag der ersten Sklavenladung erschien die Niederschrift und ihr großer Essay zur Einführung erhielt den renommierten Pulitzer-Preis. Ergänzt um sämtliche Einzelkapitel zu entscheidenden Themen sowie kurze Schilderungen prägender Ereignisse und etlichen Gedichten aus der Sklavenzeit liegt das gewaltige Kompendium nun unter dem Titel „1619. Eine neue Geschichte der USA“ vor.
Schon zu dem in allen US-Geschichtsbüchern gepflegten Gründungsmythos der USA, dass die 13 Kolonien sich vom britischen Mutterland lossagten und ihre Unabhängigkeit erkämpften, weil sie nicht länger die auferlegten Zölle entrichten wollten, wird hier mit gern verschwiegenen fakten realitiviert. Die Kolonialisten fürchteten vielmehr um für Wohlstand und Fortentwicklung so unverzichtbaren Sklaven, denn der britische Gouverneur hatte diesen sogar die Freiheit schenken wollen.
Doch so, wie die Gründerväter der USA immer wieder betonten, dass es bei der Unabhängigkeit auch um den Kampf gegen ihre Versklavung – wohlgemerkt die der weiß0en Siedler! - durch die Kolonialmacht ging und so bis heute allgemeine Geschichtsschreibung ist – folgte der noch zynischere Akt mit der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Die USA rühmen sich noch heute mit dem besonders herausragenden Satz aus der Feder von Thomas Jefferson. Nach dem sind „alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet.“
Doch dieser Thomas Jefferson war selbst ein Sklavenhalter und er sparte dabei nicht einmal die eigenen, mit einer Sklavin gezeugten Kinder aus. Die heren Grundsätze galten nicht für die Schwarzen und die Versklavten waren für die Weißen nur eine Verfügungsmasse, die für das wirtschaftliche Prosperieren für höchster Wichtigkeit war. Die Schwarzen selbst aber blieben in den Geschichtsbüchern quasi unsichtbar, nicht existent, und nur in unumgänglichen Fällen einen Fußnote wert.
Ebenfalls thematisiert wird auch der andere Sündenfall im Gründungsmythos der USA, der Umgang mit den indigenen Völkern. Auch sie sind nicht gemeint, wenn die „Amerikanische Revolution“ als zeitlose Geschichte von der Verteidigung der Freiheiten und Rechte der gesamten Menschheit als Quell des Zusammenhalts gerühmt wird.
Enteignung, Vertreibung und Ausrottung entrechteten und dezimierten die Native Americans und Verträge wie der mit dem Cherokee-Volk von 1785 mündeten in den „Trail of Tears“ und den Untergang ganzer Stämme. Und dennoch hatten die Indianervölker einen besseren Status als sämtliche Schwarzen, selbst wenn es bei diesen um Freigelassene handelte.
Wie dann auch der Supreme Court 1857 per Urteil manifestierte, dass die Schwarzen der „slave race“ entstammen und deshalb unterlegen und nicht für die amerikanische Demokratie geeignet sind. Und auch der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 schaffte die Sklaverei nicht wirklich ab und es wird belegt, dass auch der hehre Abraham Lincoln nicht Gleichberechtigung zu schaffen beabsichtigte. Immer wieder wird deutlich, wie umfassend der Reichtum der Reichtum der Weißen auf verbrecherischem Handeln und gnadenloser Ausbeutung aufgebaut wurde.
Manche der Sachverhalte erscheinen bekannt, aber – nicht so. Viele erhalten deutlich andere Sichtweisen und viele bisherige Blindstellen in den Geschichtsbüchern werden ausgeräumt. Es sind viele unangenehme Wahrheiten dabei, weshalb die Kritik an dem Projekt lautstark war, denn dies ist tatsächlich eine neue und vor allem komplettere Geschichtsschreibung, die im Übrigen erst dadurch ihr echtes Gleichgewicht erhält.
Wichtig ist dabei, dass die Autoren durchweg nicht etwa ideologisch argumentieren sondern Fakten sprechen lassen auf Grundlage gesicherter historischer Quellen. Um so schwieriger macht das für jegliche Vertreter der „white supremacy“ eine glaubhafte Widerlegung.
Fazit: dies ist kein Geschichtsbuch im eigentlichen Sinn, doch eine Sammlung von fundierten Texten, die dem Anspruch einer neuen, sachlicheren Geschichtsschreibung der USA auf ebenso beeindruckende wie spannende Weise gerecht wird.

# Nikole Hannah-Jones (Hrsg.): 1619. Eine neue Geschichte der USA; 815 Seiten, div. SW-Abb.; Blessing Verlag, München; € 35

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) 

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