BERNI MAYER: DAS VORLÄUFIGE
ENDE DER ZEIT
Als Horatio Beeltz auf dem jüdischen Friedhof von Slubice einen leichten Geruch von
Zitrone und kandierten Walnüssen und obendrein eine Art Lichtfaden wahrnimmt, weiß er,
dass er eine temporale Fraktur gefunden hat, einen Zeitriss.
Für den Kosmologen, der als Haltbarer Ärzte meidet, weil sonst sein Alter
auffliegen würde, ist es ein Lichtblick gegen die grauenhafte Langeweile, unter der er
als Zeitreisender immer öfter leidet. Und diese Entdeckung ist auch der Einstieg zu Berni
Mayers jüngstem Roman Das vorläufige Ende der Zeit.
Hocherfreut begegnet Horatio inmitten all der Grabsteine der Archäologin und Journalistin
Mi-Ra und dem polnischen Friedhofswärter Artur und er macht sie zu seinen Schülern. Mit
viel Gespür findet er heraus, dass die junge Frau und der traurige Artur unter Traumata
unverarbeiteter Schicksalsschläge leiden.
Mi-Ra hat noch nicht verwunden, dass der Vater die Familie hat sitzengelassen, um in die
koreanische Heimat zu entschwinden. Doch nicht nur seine brutalen Ausfälle sind
unvergessen, mindestens ebenso quälen sie die ungelösten Probleme mit dem toxischen
Partner. Artur wiederum muss nicht nur damit fertig werden, dass seine kleine Tochter an
Krebs gestorben ist, darüber ist auch seine Ehe zerbrochen.
Was aber, wenn es eine Möglichkeit gäbe, was in der Vergangenheit entscheidend
schiefgelaufen ist, gewissermaßen zu reparieren, geradezubiegen? Mit dieser Diskussion
überzeugt Horatio die Beiden als Versuchskaninchen zum Experiment einer Zeitreise. Obwohl
sie durchaus skeptisch sind und das Großvater-Paradoxon zu schrägen Gedankenspielen
führt.
Horatio kredenzt ihnen bestimmte Pilze aus Kasachstan als biochemische Zeitmaschine. Und
so durchschreiten sie den erfühlten Zeitriss und gelangen zu den traumatischen
Ereignissen von einst. Was Passagen eröffnet, die tief unter die Haut gehen.
Was sie erleben, erleben sie ganz real und spüren doch die Veränderungen im Zeitgefühl,
wenn die Zeit auf den Uhren vor ihren Augen verschwimmt. Am Ende des Experiments erklärt
Horatio ihnen jedoch, dass man die Zeit weder aufholen noch zurückholen könne, um die
Zukunft zu ändern. Und längst hat der Leser verstanden, dass dies nur am Rande einen
Hauch von ScienceFiction hat, sondern vielmehr einen tiefen Grad von Philosophie.
Das komplexe Gedankenspiel dieses Romans fesselt mit seiner Ernsthaftigkeit, die dank
subtilen Humors dennoch nicht nach unten zieht. Vor allem aber lebt diese geistreiche
Geschichte von den drei Hauptakteuren, die hinreißend individuell und dabei ganz und gar
glaubhaft gezeichnet sind. Fazit: hier stimmt einfach alles für einen literarischen
Hochgenuss, der lange nachhallt.
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