JESSAMINE CHAN: „INSTITUT FÜR GUTE MÜTTER“


Es mag verständlich sein, wenn eine Mutter vor lauter Erschöpfung nach durchwachten Nächten von ihrem Kleinkind regelrecht flüchtet und es über zwei stunden sich selbst überlässt. Ein schwer verzeihlicher Fehler ist so etwas gleichwohl.
Und mit dem beginnt Jessamine Chan ihren Debütroman „Institut für gute Mütter“, der in ihrer amerikanischen Heimat bereits hohe Wellen geschlagen hat. Zu dumm nur für Frida Liu, dass sie sich hat erwischen lassen. Nächtelang hatte die eineinhalbjährige Tochter ihre Mutter zermürbt: „Harriets Weinen war gnadenlos.“
So war es unbewusst wohl auch ein Fluchtgefühl gewesen, als Frida eigentlich nur einen vergessenen Ordner aus der Universität für ihre Arbeit im Home-Office holen wollte und irgendwie ganz die Zeit vergaß. Dann dieser Anruf von der Polizei, man habe Harriet auf der Wache und sie möge sich dort unverzüglich einfinden. Nachbarn hatten sie angezeigt, weil die Kleine unablässig geschrien hatte. Die Polizisten hatten dann nicht nur die Schiebetür offen vorgefunden sondern das Kind dehydriert und mit durchnässten Windeln.
Frida, 39 Jahre alt, Akademikerin mit chinesischen Eltern. Seit kurz nach der Geburt alleinerziehend, weil ihr Traummann Gust sie noch während der Schwangerschaft betrogen hatte und mittlerweile mit der deutlich jüngeren Susanna zusammenlebt. Frida nun wird „Kindesaussetzung“ vorgeworfen. Noch ahnt sie nur, dass das Sorgerecht für Harriet, das sie sich halbwöchentlich mit Gust teilt, in Gefahr ist.
Doch es sei vorweg gewarnt: was nun einsetzt, ist, als hätten sich Franz Kafka („Der Prozess“) und Margaret Atwood („Der Report der Magd“ zu einem dystopischen Schreckensroman zusammengetan. Der einerseits eine intensive Sogwirkung heraufbeschwört, andererseits aber auch Abscheu und Empörung.
Derartig derangiert und schuldbewusst, wie Frida nun in die Hände der Polizei, der Sozialarbeiterin und der mächtigen Kinderschutzbehörde KSB fällt, eröffnet sich ein wahrer Albtraum. Gerade hat die KSB ihre Regeln verschärft und ein neues, wegweisendes Programm aufgelegt. Vorerst aber ordnet die Familiengerichtsbarkeit „nur“ die Beobachtung an.
Mit der Folge, dass jegliche Privatsphäre entfällt, denn in ihrer Wohnung werden Kameras zur Videoüberwachung installiert, die nur das Bad auslassen. Frida leidet unter einer quälender Einsamkeit. Vor Gericht aber wird es erst richtig übel, denn was immer sie sagt oder tut, wird so ausgelegt, dass der Vorwurf stets lautet, sie sei „unzureichend reumütig“.
Die einzige Chance, nicht jeglichen Kontakt zu ihrem Kind zu verlieren, ist die Teilnahme am KSB-Programm. In einem früheren Collage befindet sich dieses mit stromführenden Zäunen umfriedete Umerziehungsheim und auf einem großen Schild steht dort blassrosa auf Schwarz: „Ich bin eine schlechte Mutter, aber ich lerne, eine gute zu sein.“
Die Frauen hier sind sämtlicher Rechte und jeglicher persönlicher Habe beraubt und alles, bis hin zur Unterwäsche ist anstaltseigen. Das Personal in den rosa Laborkitteln herrscht gnadenlos unter Anwendung der ständigen Knute, die wenigen Telefonminuten mit ihren Kindern vorzuenthalten. Noch schlimmer jedoch ist die Willkür, mit der über das Bestehen der notwendigen Besserungskurse entschieden wird. Nur damit aber besteht Aussicht auf Erfolg nach einem Jahr.
Vollends abstrus wird nun die Ausbildung, denn bei diesem Dressurakt nach erzkonservativsten Vorstellungen einer gute Mutterschaft werden lebensechte KI-Puppen als Kindesersatz eingesetzt. Begleitet von massiven Demütigungen bis hin zu psychischer Folter, ist als Sprache „Mutterisch“ anzutrainieren, das Frida so natürlich empfindet wie eine Zahnspange.
Das alles ist hervorragend geschrieben, zugleich wird das Lesen zur massiven, schwer erträglichen Provokation. Da wird das klassische Muttersein bis zur Unkenntlichkeit verdichtet und derartig pervertiert, dass man laut aufschreien möchte. Und was diesen Roman auf erschreckende Weise von der Gruselwelt in „Der Report der Magd“ unterscheidet – er erscheint nicht wie eine dystopische Geschichte einer fernen Zukunft, sondern als eine real mögliche Entwicklung in unseren Zeiten.
Fazit: „Institut für gute Mütter“ ist ebenso grandioser wie furchtbar und bei jungen Leserinnen könnte er arg bremsend auf jeglichen Kinderwunsch wirken.

# Jessamine Chan: Institut für gute Mütter (aus dem Amerikanischen von Friederike Hofert); 422 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 22,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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