JUDITH HERRIN: „RAVENNA“


Nach der Blüte des Imperiums residierten die römischen Kaiser immer häufiger außerhalb Roms. Wie unter anderem in Mailand. Als jedoch die Goten unter Alarich in Italien einfielen, verlegt der eben erst 18-jährige Kaiser Flavius Honorius auf Anraten seines Generals Stilicho seinen Hof nach Ravenna.
Diese kleine Stadt galt dank ihrer geografischen Lage samt gutem Adria-Hafen als quasi uneinnehmbar. Dieser Schitt im Dezember 402 sollte Folgen für die Weltgeschichte haben. Kaum jemand kann darüber so profund berichten wie Judith Herrin. Die emeritierte britische Professorin für Alte Geschichte und Byzantinistik am King's College in London hat über die entscheidenden Jahrhunderte ein umfassendes Standardwerk verfasst, das sich unter dem Titel „Ravenna. Hauptstadt des Imperiums. Schmelztiegel der Kulturen“ dem Zeitraum vom 3. Jahrhundert bis um das Jahr 800 gewidmet.
Es war Kaiser Diokletian, der als Herrscher ab 294 dem Niedergang des Römischen Reiches grundlegende Reformen und Umstrukturierungen entgegensetzte. Die Hauptstadt Rom diente seither nur noch sporadisch als Residenz der Macht. Und unter dem neuen Kaiser Konstantin, der sich in Vorderasien ein neues Machtzentrum mit dem nach ihm benannten Konstantinopel errichte, setzte die Zweiteilung des Imperiums in Oströmisches und Weströmisches Reich ein.
Der italienische Teil des westlichen Reiches aber wurde im anbrechenden Zeitalter der Völkerwanderungen immer wieder von fremden Stämmen wie den Goten, den Vandalen und den Langobarden heimgesucht. Was dann beim Anmarsch Alarichs auf Mailand dazu führte, dass Kaiser Honorius, Sohn von Kaiser Theodosius, das weströmische Machtzentrum nach Ravenna verlagerte.
Geografisch gegen Angriffe hervorragend abgeschirmt und mit seinem Hafen Classis, war Ravenna in diesen dauerhaft kriegerischen Zeiten eine optimale Wahl. Während Rom ins Provinzielle niedersank, erblühte die Stadt an der südlichen Po-Mündung als Dreh- und Angelpuntk zwischen Ost und West nicht nur politisch. Eine Schlüsselrolle spielte anfangs Galla Placidia, theodosianische Prinzessin und Halbschwester Honorius' mit sehr bewegtem Lebenslauf.
Es entstanden prachtvolle Kirchen und sonstige Bauten, Ravenna wurde zu einem Treffpunkt von Gelehrten und griechischer, lateinischer, christlicher und barbarischer Kulturen und dadurch zu einem Schmelztiegel für das frühchristliche Westeuropa.
Das zugleich ganz wesentlich dank der Machtverschiebungen ein byzantinisches Reich war. Dort herrschten immer wieder machtvolle Bischöfe und in der Blütezeit war Ravenna für anderthalb Jahrhunderte sogar das Zentrum eines Reiches, um danach noch für gut 200 Jahre Mittelpunkt einer kaiserlichen Provinz zu sein.
Immens bewegt waren diese Zeiten und auch das uneinnahmbare Ravenna wurd schließlich von fremden Stämmen erobert: es waren die Langobarden, die 751 eindrangen. Und die große Bedeutung Ravennas kam endgültig um 800 zu ihrem Ende. Es der der in Rom soeben zum machtvollen Kaiser gekrönte Franke Karl der Große, der die Stadt an der Adria im Jahr 801 besuchte und sie als Provinzstadt hinter sich ließ.
Judith Herrin spannt diesen Bogen mit fesselnder Souveränität, auch wenn die Fülle der Fakten und Details zuweilen geradezu erschlägt. Zugleich hat sie nicht nur die rein historischen Dimensionen aufgeführt sondern auch viel über die Lebensumstände der Menschen in und um Ravenna. Fazit: ein anspruchsvolles Werk, das diese so bedeutsame Epoche überaus bildhaft darstellt.

# Judith Herrin: Ravenna. Hauptstadt des Imperiums. Schmelztiegel der Kulturen (aus dem Englischen von Cornelius Hartz); 605 Seiten, div. Abb.; wbg Theiss Verlag, Darmnstadt; € 39

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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