JOHN IRVING: „DER LETZTE SESSELLIFT“


„Meine Mutter gab mir den Namen Adam.“ Wen das an „Moby Dick“ und dessen Eröffnungssatz „Nennt mich Ishmael“ erinnert, liegt gar nicht falsch, denn der Melville-Klassiker ist das Lieblingsbuch von John Irving und der bewusste Adam fungiert nun als Ich-Erzähler von Irvings mittlerweile 15. Roman.
„Der letzte Sessellift“ heißt dessen Titel und wenn dort der Schlusssatz „Ich versuche, nicht an das Verschwinden zu denken“ lautet, so darf man zu Recht an eine Art Vermächtnis des Bestsellerautors denken, der das gewaltige Werk mit 80 Jahren abschloss.
Noch einmal packt der Autor gleich mehrerer Klassiker der Weltliteratur all seine Themen, die krassen Figuren und schrägen Konstellationen aus. Unverkennbar ist dabei Adam Brewster das alter ego des Autors und wenn der im – echten – Hotel „Jerome“ gezeugt wurde, kennzeichnet das nicht nur das eine von zwei Ski-Paradiesen, in denen sich der sportbegeisterte Irving sein Leben lang am wohlsten fühlte.
In diesem Hotel entstand adam 1941 und der Zeugungsakt war speziell und ein wenig schon wegweisend: Mutter Rachel, angehende Profi-Skiläuferin, war ganze 19 Jahre alt und der Erzeuger sogar erst zarte 14. Und es war ein einmaliger Vorgang, denn Rachel, wegen ihrer zarten 1,57 Meter „Little Ray“ gerufen, war lesbisch.
Als sie dann quasi aus Gesellschaftsgründen Elliott Barlow ehelichte, wird es noch schräger, denn der ist noch ein stück kleiner und im Übrigen ein Transgendermann, der sich immer mehr zur Frau verwandelt. Ohnehin bevölkern wie schon in früheren Roman Irvings Kleinwüchsige, starke Frauen und schwache Männer ganz wesentlich diesen überaus bunten Kosmos.
Und natürlich berührt das auch das Bewusstsein Adams intensib, der von den Hauptfiguren so ziemlich der einzige einfach nur heterosexuell Orientierte ist. Was auch hätte schiefgehen können, denn seine Mutter, die ihn abgöttisch liebt, ist auch die erste, die ihn küsst. Aber richtig wie eine Frau und das mit hemmungsloser Intensität.
Während Adam dan Jahrzehntelang herauszufinden versucht, wer sein leiblicher Vater ist, entwickelt er sich andererseits zum erfolgreichen Schriftsteller und Drehbuchautor. Diese Parallele zu John Irving, der mit Drehbüchern so erfolgreich war, dass er im Jahr 2000 sogar den Oscar für „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ gewann, führt unter anderem zu zwei großen Kapiteln des Romans in Drehbuchform.
Ungewöhnlich in einem Roman, doch so einzig, dass sie zu den Highlights des an Höhepunkten reichen Romans zählen. Der vor allem von den Themen Liebe und Toleranz beherrscht wird nach dem Grundsatz, dass es nicht nur eine Form gibt, einander zu lieben. Und es sind die jeweils sehr besonderen Liebespaare, die diese raum- und zeitfüllende Geschichte tragen.
Während Adam durch die Betten wandert, glänzt insbesondere das Lesbenpaar Nora und Emily als Varieté-Duo. Und diese Emily, allgemein nur „Em“ genannt, fesselt als außergewöhnliche Akteurin, denn die Pantomimin drückt alles nur in Körpersprache aus. Außer ihre lautstarken Orgasmen. Dass ausgerechnet sie nach einem beinah tödlichen Zwischenfalls zu Adam findet und diese beiden ein eigenwilliges Liebespaar werden, gehört zu den genialsten Twists des Romans.
Dessen genauer Handlungsstrang man ob der Fülle der Ereignisse und Verflechtungen kaum mit wenigen Sätzen nachzeichnen könnte – und auch gar nicht sollte – zieht sich entlang acht Jahrzehnten und dabei hält Irving auch seine dezidierten politischen Meinungen nicht hinterm Berge. Seine Haltung ist klar die eines linksliberalen Demokraten, der sich an Lichtgestalten wie Nixon, Reagan und Trump ebenso reibt wie an der Haltung der katholischen Kirche zur Abtreibungsfrage.
„Der letzte Sessellift“ ist bei aller bunten Deftigkeit und Komik ein emotionales Buch mit einer melancholischen Grundstimmung. Mag der Roman im Übrigen vielleicht nicht sein bester sein, sein Opus Magnum ist er auf jeden Fall. Und der Meister, der schon immer das Chaos liebte, er weiß es einmal mehr zu bändigen ohne es aufzulösen.
Fazit: ein großartiger John Irving mit einem Buch für anspruchsvolle Leser, die sich bei einem guten Buch wünschen, es möge nie zuende gehen.

# John Irving: Der letzte Sessellift (aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg); 1080 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 36

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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