SALMAN RUSHDIE: „VICTORY CITY“


Das hinduistische Königreich Vijayanagara existierte von 1318 bis 1565 und beherrschte in seinen Glanzzeiten ganz Südindien. Seine Geschichte ist kaum noch bekannt, der große Romancier und studierte Historiker Salman Rushdie hat sie nun in seinem neuen, noch vor dem Mordanschlag vom Sommer 2022 abgeschlossenen Roman zu seinem einzigartigen Märchenepos umgeschrieben.
Mit dessen Titel „Victory City“ ist die fiktive Kernzelle des Reiches gemeint, die prächtige Hauptstadt Bisnaga. Doch Rushdie tritt offiziell nur als Erzähler auf, denn alles, was hier offenbart wird, entspringt der Entdeckung eines alten Schatzes: dem gewaltigen Prosagedicht von Pampa Kampana.
Mit neun Jahren musste sie den Opfertod ihrer Mutter mitansehen, woraufhin jedoch die Göttin Parvati sie mit magischen Kräften ausstattete. Am Ende ihres Lebens ist sie 247 Jahre alt, dabei jedoch in der Erscheinung einer Frau Ende 30. Und am letzten ihrer Tage versiegelt sie das 24.000 Verse umfassende Prosagedicht über den Aufstieg und den Untergang des Königreichs in einem Topf als „Botschaft an die Zukunft“.
Diese mit geradezu halbgöttlichem Zauber geschriebenen Verse überträgt der Erzähler als Märchen, dessen Grundzüge jedoch historisch belegt sind. Als Pampa sich mit 18 Jahren dem übergriffigen weisen Mönch Vidyeranya entzieht, hat sie ihre magischen Kräfte bereits entdeckt. Und sie lässt aus einer Handvoll Bohnen und Samen die Stadt Bisnaga erwachsen und sie haucht ihren Einwohnern Leben und eine Identität ein.
Aus einem Brüderpaar, das einst Kühe hütete, macht sie die ersten Könige des Reiches. Das in kriegerischen Zeiten bald nicht nur zu großer Macht aufstrebt, sondern auch über lange Zeit ein Hort der Künste und der religiösen Toleranz ist. Pampa selbst, die der Erotik frönt und ein kurzes tiefes Glück mit einem portugiesischen Kaufmann genießen kann, erlebt Verehrung aber auch Anfeindungen.
Eines aber bleibt ihr bis zuletzt auf Grund ihres Geschlechts verwehrt: mag sie auch die kluge Urmutter dieses Reiches sein, dessen Königin darf sie nicht werden. Und so bewegt die Geschichte von Vijayanagara, was nicht weniger als Sieg und Niederlage heißt, auch sein mag – auch dieses Reich ist nicht von Ewigkeit.
Als Pampa schließlich das Recht als Frau auf den Thron reklamiert, geschieht ihr Furchtbares, denn der König begnügt sich nicht mit Abweisung. Doch Pampas grausames Schicksal führt dazu, dass sie als geblendete Gefangene dieses Epos aufschreiben lässt. Und ihr Ende geht schließlich auch einher mit dem Untergang des Reiches.
Eine Frau hat es geschaffen und es sind Männer, die es zerstören. Da ist es dann die vollendete märchenhafte Magie, mit der Salman Rushdie als literarischer Kosmopolit und Alchimist des Erzählens diesen grandiosen Roman beschließt: „Worte sind die einzigen Sieger.“
Die aber hat der 75-Jährige voller Kraft und zugleich mit genüsslich respektlosem Unterton und spürbarer Freude am Fabulieren zu hoher Sogwirkung verdichtet. Bei so viel Sprachgewalt ist es dann für deutschsprachige Leser eine besondere Freude, dass die souveräne Übertragung durch Bernhard Robben dieses funkelnde Märchen für Erwachsene zu einem solchen Hochgenuss macht.

# Salman Rushdie: Victory City (aus dem Englischen von Bernhard Robben); 414 Seiten; Penguin Verlag, München;
€ 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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