TIM BLANNING: GLANZ UND
GRÖßE
Eine Epoche wie den Aufstieg Europas zur beherrschenden globalen Macht darzustellen,
bedarf der Kennerschaft und der Könnerschaft eines Historikers wie Tim Blanning. Der
emeritierte britische Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität
Cambridge hat sein Epochengemälde zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Wiener
Kongress verortet.
Macht und Größe lautet der Titel und der Untertitel stellt das Thema fest:
Der Aufbruch Europas 1618-1815. Eine sehr sinnvolle Eingrenzung, denn mit dem
Ende des Dreißigjährigen Krieges entfielen die großen Religionskonflikte und mündeten
politisch in eine immerwährendes Patt zwischen Katholiken und Protestanten.
Historiker Blanning hat das opulente Werk in die vier Hauptteile Leben und
Sterben, Macht, Religion und Kultur sowie Krieg und
Frieden untergliedert. Das einleitende umfassende Hauptkapitel widmet sich dem
Zustand Europas und seinen Entwicklungen durch die gesamte Epoche hinsichtlich
wesentlicher Strukturen wie Demografie, Verkehr, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und
dergleichen.
Er tut dies vergleichend und länderübergreifend und gibt damit einen Überblick über
die verschiedenen Voraussetzungen des Aufstiegs des Kontinents. Der zu Beginn der
beschriebenen Epoche gegenüber anderen großen Mächten wie dem Osmanischen Reich oder
den indischen und chinesischen Subkontinenten wirtschaftlich, technisch und militärisch
deutlich schwächer war.
Wesentlich geprägt wurde die Epoche auf dem europäischen Schauplatz von Frankreich, das
bereits 1648 demografisch und militärisch die alles überflügelnde Großmacht war. Und
dies unter Ludwig XIV. (1638-1715) in einem jahrzehntelangen Expansionsdrang zum Ruhme des
Sonnenkönigs skrupellos verfolgte.
In Europa bellt kein Hund, ohne dass unser König es ihm erlaubt hat, zitiert
Blanning einen arroganten französischen Diplomaten. Wobei der Historiker mit einer
Vielzahl oft zielführender Zitate und teils anekdotenhaften Beschreibungen für eine
besonders unterhaltsame Lesbarkeit des gewaltigen Stoffes sorgt.
Die andere herausragende Qualität dieses Monumentalwerks ist die durchweg gelungene
Gegenüberstellung und Verknüpfung paralleler Entwicklungen. Wobei das Hegemoniestreben
des schier maßlosen Franzosenkönigs in den 1680er Jahren seinen Zenit erklimmt, sich nun
jedoch von ihm unterschätzt neue Allianzen bilden.
Spätestens Ludwigs Widerruf des Edikts von Nantes 1685 versetzt vor allem das
protestantische Europa in Aufruhr: strebte der Herrscher jetzt sogar neben der
Weltherrschaft auch noch eine religiöse Diktatur an? Zum Niedergang in immer neuen
kriegerischen Konflikten bei deren bewusstem mordbrennerischem Wüten in deutschen
Landen die so folgenreiche Erbfeindschaft entstand trugen auch aufstrebende neue
Mächte wie Preußen bei.
Während Frankreichs Stern sank, entwickelte sich England zur Weltmacht, mit dem nun eine
Art hundertjähriger Krieg aufkam. Das strauchelnde Frankreich war von neuen Großmächten
umzingelt und sorgte gleichwohl nach dem Jahrtausendereignis der Revolution von 1789 mit
Napoleon erneut für einen rücksichtslosen Eroberer.
Als der 1815 endgültig besiegt und Europa neu geordnet war, hielt dieser Frieden auf dem
Kontinent immerhin für rund vier Jahrzehnte. Geopolitisch aber hatte sich weit mehr
verändert: das Europa der Neuzeit hatte sich in jeder Hinsicht fortentwickelt und sollte
für lange Zeit politisch, wirtschaftlich, technisch, wissenschaftlich und militärisch
Global Player Nummer Eins sein, auch wenn sich seine einzelnen Mächten immer wieder
blutig bekämpften.
Tim Blanning macht dies auf eindrucksvolle und sehr anschauliche Weise deutlich und
liefert mit dieser Geschichtsschreibung nicht weniger als ein Standardwerk zur Entwicklung
der neueren europäischen Geschichte. Um so unverständlicher wirkt es da, dass dieses
Buch 15 Jahre bis zur Veröffentlichung auch auf Deutsch gebraucht hat.
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# Tim Blanning: Glanz und Größe. Der Aufbruch Europas
1648-1815 (aus dem Englischen von Richard Barth und Jörn Pinnow); 927 Seiten, div. Abb.;
Deutsche Verlagsanstalt, München; 49
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
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