ULRIKE DRAESNER: „DIE VERWANDELTEN“


Kinga Schücking ist Rechtsanwältin und alleinerziehende Mutter. Auf doppelte Weise stößt die gut 50-Jährige auf einen polnischen Familienzweig und gravierende Geheimnisse aus der Vergangenheit.
Kinga und die Polin Dorota sind die Ich-Erzählerinnen in dem Roman „Die Verwandelten“, mit dem Ulrike Draesner nach „Sieben Sprünge am Rand der Welt“ und „Schwitters“ ihre Trilogie über Krieg, Flucht und Vertreibung und was das mit den betroffenen Menschen macht, abschließt. Am Anfang steht diesmal ein Vortrag, den Kinga als Erbrechtsspezialistin über das Lebensborn-System der SS hält.
Mit drastischen Worten schildert sie, wie dabei ab 1936 Arier und Arierinnen zum „Rammeln auf der Reichsfahne, unterm Himmler-Bild, auf dem Gebärstuhl“ zum Zeugungsakt zusammengeführt wurden. Schließlich galt es, dem Männerunterschuss durch den bald zu erwartenden Krieg entgegenzuwirken.
Doch die Anwältin breitet nicht nur viele Fakten aus, ihre Mutter ist selbst ein Produkt dieser Praktiken der Nazis gewesen. Und sie erbt von dieser so erzeugten Alissa, die im Alter aus zunächst unerfindlichen Gründen ins polnische Wrozlaw, dem ehemaligen Breslau, zurückgegangen ist, ein alte Villa.
Vor allem aber lernt Kinga bei ihrem Vortrag die Polin Dorota kennen, die dann zur zweiten Erzählerin wird. Sie überrascht die Deutsche nicht nur mit erstaunlichen Kenntnissen aus Alissas Vergangenheit sondern auch mit ihrer unübersehbaren äußerlichen Ähnlichkeit mit Kinga. Auf verschiedenen Zeitebenen und im Wechsel der Stimmen entfaltet sich nun ein komplexes und doch sehr reales Beziehungsgeflecht.
Dorotas Mutter Walla wurde als Renate Valerius geboren und stammt aus einer wohlhabenden deutschen Familie, die 1945 vertrieben wurde. In den letzten Kriegswochen aber waren die 16-Jährige und ihre Mutter Rotarmisten zum Opfer gefallen. Um in der Heimat bleiben zu können, nahm sie die polnische Identität an. Was nicht einmal ihre vier Kinder erfuhren.
Alissa dagegen hat denselben Vater wie Renate/Walla, denn ihre Mutter wurde von diesem als Dienstherr des jungen Dienstmädchens geschwängert. Um einen Skandal zu vermeiden, landete das Kind als angebliches Lebensborn-Erzeugnis in einem dieser Heime und wurde erst später von einem strammen Nazi-Ehepaar adoptiert.
Und auch hier gehörte es zu den Überlebensstrategien der verletzten Seelen zu verdrängen, zu verschweigen. „Keine Lügen. Nur geschickte Aussagen.“, wie Alissa das wenige nennt, was sie überhaupt preisgibt. Ulrike Draesner gibt diesem komplexen Gefüge der so uneindeutigen, oft verworrenen Abstammungsverhältnisse eine stets glaubhafte Stimme, und nicht von ungefähr sind hier durchweg Frauen die starken Figuren.
Das ist fesselnd, aufwühlend, intensiv und überzeugt mit der souveränen Sprache der großen Erzählerin. Sie tut das mit schonungslosem bitteren Unterton, der zuweilen auch drastisch wird. Und die Autorin stellt im Nachwort dieses anspruchsvollen literarischen Meisterwerks zum Wahrheitsgehalt des Geschriebenen klar, sie habe „Körper, die nie existierten, um jene gelegt, die es gab.“

# Ulrike Draesner: Die Verwandelten; 601 Seiten; Penguin Verlag, München;

€ 26

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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