CAMILLA TOWNSEND: „FÜNFTE SONNE“


Die Azteken glaubten, das Universum sei vor ihrer Zeit vier mal zusammengebrochen. Dank des Mutes einen einfachen Mannes aus dem Volk, der sich als Opfer ins Feuer stürzte, erhellte es seitdem als fünfte Sonne die Welt.
„Fünfte Sonne“ ist denn auch das bereits preisgekrönte Sachbuch überschrieben, in dem Camilla Townsend, Geschichtsprofessorin an der renommierten Rutgers University in New Jersey, sich den Überlieferungen der mesoamerikanischen Völker widmet. Nicht von ungefähr lautet der Untertitel „“Eine neue Geschichte der Azteken“.
Wobei schon die allgemein bekannte Bezeichnung historisch falsch ist, denn keines der dortigen Völker hat sich je als Azteken bezeichnet. Die zur Zeit der Ankunft der spanischen Konquistadoren Anfang des 16. Jahrhunderts im Mittelpunkt stehende ethnische Gruppe – über 1,5 Millionen Menschen in einer prachtvollen Hochkultur – benutzten selbst die Bezeichnung „Mexica“ (sprich Meschiika) für sich.
Doch das Geschichtsbild dieser exotischen und blutrünstigen Menschen mit den alltäglichen Menschenopferungen beruht gänzlich auf der Geschichtsschreibung der Sieger, eben der spanischen Eroberer. Es ist einseitig, voller weitgehender Fehleinschätzungen und falscher Ansichten. Und ganz und gar katholisch geprägt, weshalb diese primitiven Barbaren „nach dem Willen Gottes auszulöschen“ waren.
Damit wurden die Traditionen und Bräuche der Indios bestensfalls als „bizarr“ eingestuft und ihre lange wechselvolle Geschichte mit vielen Reichen einfach marginalisiert. Die hohe Ignoranz entsprang nicht zuletzt dem Fehlen einer Schrift der Indigenen, die nur eine Art Bildersprache (Knotenschrift) kannten.
Doch als die Spanier dann Einheimische die lateinische Schrift lehrten, damit sie die Bibel schneller und leichter fürs unerlässliche Konvertieren lernen konnten, geschah Ungeahntes. Die Indigenen lernten sehr bald zu schreiben und der von den Spaniern selbstredend nie als Wissenschaftler anerkannte indigene Intellektuelle Domingo Chimalpahin als der produktivste von allen schrieb am Tag für die neuen Herren in der Kirche.
Nachts aber verfasste er hunderte von Seiten über die Geschichte und die überwiegend mündlichen Überlieferungen. Er und all die anderen Chronisten, die entweder heimlich oder von den Spaniern unbeachtet die Vergangenheit festhielten, taten dies in der allgemein dominierenden Sprache Nahuatl. In teils blumigen Beschreibungen geht es da um frühe prächtige Städte, um Untergänge, Kriege, Völkerwanderungen und immer wieder aufblühende Hochkulturen.
Die Inhalte der Schriften, die von der westlichen Wissenschaft lange ignoriert oder als fragwürdig eingestuft wurden, hat Camilla Townsend nun aufgeschlüsselt und verständlich gemacht. Mit immer wieder erstaunlichen Erkenntnissen aus dieser anderen Perspektive. Die mit gravierenden Fehlurteilen aufräumen und hocheffiziente System mit bisher so nicht bewussten Glaubensvorstellungen und einem sich wandelnden Selbstverständnis.
Wobei im Übrigen der von der westlichen Geschichtsschreibung immer so herausgehobene Glaube der Mexica an die Notwendigkeit von Menschenopfern zur Besänftigung der Götter niemals die angeblich zentrale Bedeutung hatte. Neue Sichtweisen eröffnen aber auch die Niederschriften der ersten Generationen Indigener nach dem Untergang des Reiches von Tenochtitlan.
Einerseits lassen sie eine überraschende Neugier und viel Pragmatismus erkennen, mit denen sich die Unterworfenen ins neue System einpassten. Vor allem aber wird deutlich, wie es Hernando Cortes mit seiner vergleichsweise kleinen Armada schaffen konnte, diese Großmacht so total niederzuschlagen.
Die Konquistadoren waren nicht nur militärtechnisch hoch überlegen. Das Reich des Moctezuam hatte sich an den Rändern viele indigene Völker einverleibt und die schlugen sich nun teils als Feinde auf die Seite der Spanier. Als die die mächtige Stadt angriffen, versuchte Moctezuma diesen nicht gewinnbaren Krieg durch Tributzahlungen zu vermeiden.
Doch es war zu spät und die von den Europäern eingeschleppten Pocken sorgten dann endgültig für den Untergang. Auch die fatale Rolle der legendären indianischen Übersetzerin Marina/Malinche an Cortes`Seite – und teils als „Verräterin an den Ureinwohnern Amerikas“ geschmäht – erscheint in einem anderen Licht.
Aber auch die bisher für die Wissenschaft so schwer verständliche Zeit der 1560er Jahre wird unter Einbeziehung der aztekischen Geschichtsschreibung auf einmal verständlich: da war nicht zufällig oder unerklärlich sondern eine vorhersehbare politische Krise.
Auf dieser Fülle von komplexen Schriften, deren Auswertung eine immense Herausforderung war, müssen viele Vorstellungen von der „aztekischen“ Kultur und Geschichte völlig neu gesehen werden. Und genau dafür bietet dieses ebenso anspruchsvolle wie spannend geschrieben Sachbuch eine faszinierende Grundlage.

# Camilla Townsend: Fünfte Sonne. Eine neue Geschichte der Azteken (aus dem Amerikanischen von Anna und Wolf Heinrich Leube); 412 Seiten, div. SW-Abb.; C. H. Beck Verlag, München; € 32

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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