FRANZOBEL: EINSTEINS
HIRN
Albert Einstein hatte in seinem Testament verfügt, dass sein Leichnam verbrannt und die
Asche an einem bestimmten Ort verstreut werde. Als es so weit war, wurde dem Wunsch
allerdings nur teilweise gefolgt und ausgerechnet das Gehirn des Genies blieb dabei außen
vor.
Als Einstein am 18. April 1955 im Krankenhaus von Princeton verstarb, wurde der
Chefpathologe Thomas Stoltz Harvey mit der Autopsie beauftragt, obwohl die auf Grund der
natürlichen Todesursache dem erwartbaren Aortariss durch ein Aneurysma
völlig unnötig war. Harvey ließ sich bei diesem berühmten Toten nicht lange bitten und
vergaß darüber sogar seinen Hochzeitstag.
Doch dieser an sich gähnend langweilige 42-Jährige verstieg sich dabei zu einem
schicksalhaften Clou, als er bei der Autopsie das Gehirn des Nobelpreisträgers entnahm
und es von da an 42 Jahre lang nicht mehr rausrückte. Als der österreichische
Erfolgsautor Franzobel auf diese abstruse aber wahre Geschichte stieß, war klar: daraus
musste ein Roman entstehen.
Der liegt nun unter dem schlichten Titel Einsteins Hirn vor und er setzt mit
diesem Todestag des 76-jährigen Physikers ein. Für die Eingangsphase berichtet Sam
Shephard, als FBI-Agent jahrelang Beschatter Einsteins wegen möglicher unamerikanischer
Umtriebe. Zartbesaitete Leser seien vorgewarnt, denn die Autopsie wird so haarklein
beschrieben, wie sie auch den Testamentsvollstrecker Otto Nathan zur Übelkeit trieb.
Mit 2711 Gramm ist das berühmte Hirn leichter als ein durchschnittliches und Harvey
vereinnahmt den elfenbeinrosa Klumpen in Formaldehyd mit dem Vorsatz: Ich habe vor,
damit den Sitz der Genialität zu entdecken. Da sich außerdem Einsteins Leibarzt
die Augen als Souvenir nimmt, wird der Leichnam schließlich als blinder Hohlkopf zum
Krematorium gebracht.
Streit mit den Erben ist vorgezeichnet, doch erst einmal wird nun Thomas Harvey
ausführlich vorgestellt. Sein scheinheilig frömmelnder Vater hat ihn von früh an zum
willensschwachen Stotterer geprügelt und es waren eher glückliche Fügungen, die den gut
aussehenden Schweiger bis zum Chefpathologen aufsteigen ließen.
Bis er nun das in Marmeladengläsern dümpelnde Hirn unter seine Fittiche nahm und daheim
aufbewahrte. Mit hinreißenden tragikomischen Aspekten und immer neuen Skurrilitäten.
Über seinen Schatz zerbricht nicht nur die erste Ehe mit der ebenso langweiligen Elouise,
auch zwei weitere Ehen scheitern an Einsteins Hirn.
Um so erstaunlicher erweist sich die Beharrlichkeit, mit der Harvey den Besitz des Hirns
gegen diverse Anspruchsteller verteigt. Mit dem als Erbe als besonders düpierten
ältesten Sohn findet er eine Übereinstimmung als gleichermaßen Vatergeschädigter,
wogegen er Otto Nathan über die gemeinsame Liebe zum Baseball abwehrt.
Natürlich verweist Harvey auch stets auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den
Untersuchungen, während er Forderungen des Militärs einfach auflaufen lässt: Einstein
war schließlich Pazifist. Spitzfindig werden Debatten mit Vertretern der Weltreligionen,
wobei ausgerechnet ein syrischer Gemüsehändler mit einem Satz glänzt, der von Einstein
selbst hätte sein können: Nur die Unvollkommenheit ist vollkommen.
Immer schräger werden die Erlebnisse und zu der Abwärtsspirale in Harveys Leben, die ihn
zu immer neuen Ortswechseln nötigen, gesellt sich als literarischer Geniestreich der
Beginn von Dialogen zwischen Harvey und dem Hirn. Das gipfelt in einem hintersinnigen
Zwiegespräch, bei dem Harvey gewissermaßen vom Fachmann wissen will: Dann gibt es
auch Gott. Und Einsteins Hirn antwortet mit dem Bonmot: Er ist wie die
eingebildete Krankheit eines Hypochonders.
Harvey landet im Alter in Lawrence, Kansas, wo er in einem alten Wohnwagen haust und als
Hilfsarbeiter in einer Plastikfabrik jobbt. Einsteins Hirn hat ihm als Einziges die Treue
gehalten, nach 42 Jahren aber bringt er es nach Princeton zurück. Wo es ja auch
hingehört.
Eine schier unglaubliche Geschichte, die sich in beeindruckender Manier vor dem
Weltgeschehen entfaltet und weitgehend auf Tatsachen beruht. Und Kultautor Franzobel ist
es hinreißend gelungen, aus der Vita dieses unglaublich langweiligen Thomas Stoltz Harvey
einen fesselnden literarischen Hochgenuss zu gestalten.
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