PETER HENNING; „BIS DU WIEDER GEHST“


Henry Kaplan ist Anfang 40, hat als Antiquar ein Auskommen und lebt mit Partnerin Martha im Schwarzwald. Er hat sich eingerichtet in seinem Dasein, und genau daraus reißt ihn ein Anruf aus einem Krankenhaus.
Dort liegt seine Mutter im Koma, nachdem sie auf dem Bahnhof zusammengebrochen ist. Wieso hat man seine Nummer als Notfallnummer bei ihr gefunden, wo es doch seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr gegeben hat? Mit diesem Schock und seiner unwilligen Antwort beginnt Peter Hennings neuer Roman „Bis du wieder gehst“.
Bei Ich-Erzähler Henry reißen mühsam verarbeitete alte Wunden wieder auf, denn diese Erika Uhlig hatte ja schon ganz früh aufgehört, seine Mutter zu sein. Gerade vier Jahre war er, als sie heimlich verschwand und ihn ohne jede Erklärung zurückließ. Nach ein paar Monaten bei der Großmutter begann dann der eigentlich Leidensweg in einem Kinderheim.
Verlassensein, endlose Enttäuschungen, weil er oft monatelang ohne Besuch blieb, und später noch der Selbstmord von Großmutters Freund Pawel. Und für diese Mutter, die sich früh in ein Leben ohne ihn abgesetzt hatte, soll er nun der Notfallkontakt sein? So sehr er sich innerlich sträubt, hat ihn seine schwierige Vita so geprägt, dass ihm Neinsagen nicht gelingt.
Sieben Tage gibt er sich, um an ihrem Krankenbett zu verweilen. Und in der spiegellosen Wohnung der Mutter, die sich stest über ihr attraktives Äußeres definiert hatte. Drei Ehemänner, zahlreiche Liebhaber, und nun mit knapp 60 lag sie da: „Wie eine leicht verwahrloste Version ihrer selbst.“
Henry muss zwischendurch sogar Zustimmungen für notwenige Operationen der Komatäsen erteilen, obwohl die Ärzte andererseits definitiv ausschließen, dass sie noch einmal wach werden wird. Zunächst nutzt Henry allerdings die Gelegenheit zu einem Besuch bei seinem Halbbrunder Hans, der wegen schwerer psychischer Macken in einer naheliegenden Anstalt untergebracht ist.
Während beider Vater, der Mutter und Henry schon ganz früh verlassen hatte und sich bei den seltenen Kontakten als arroganter Großkotz gebärdete, hatten die Halbbrüder eine meist schwierige aber auch irgendwie innige Beziehungen zueinander. Die Henry jedoch nicht vor den wabernden Erinnerungen retten kann, die nicht nur in seinem Kopf wie eingemeißelt sind.
Da ist auch Mutters Nachbar, der sie viel länger und besser kennt als der „verlorene Sohn“ - als solchen hat sie Henry tatsächlich bezeichnet. Doch Henry lernt auf einer Reise in eine noch weniger bekannte Vergangenheit der Mutter auch eine Jugendfreundin kennen. Und erfährt Dinge, die teils eher abstrus klingen, teils aber auch das Bild der so Flatterhaften neu entstehen lassen.
Bei ihr war es der Vater, der in Kindestagen verschwand, und Henry konstatiert bitter: „Wer einmal verlassen wurde, verlässt später andere.“ Vermutlich aber hatte es dann noch eine prägende Leidenszeit mit einem übergriffigen Stiefvater gegeben. Henry ahnt, dass offenbar nicht nur er selbst Opfer wurde, und dass diese ständig vor sich selbst weglaufende Frau nie Geborgenheit oder gar Liebe gefunden hatte.
Die vielen blinden Stellen in ihrem früheren Leben, das neue und doch unvermeidlich unvollkommene Bild von ihr – kann Vergebung eine Erlösung sein? Und wird sie ihm gelingen? - Peter Henning hat diesen tiefgründigen Roman trotz der schmerzlichen Vorgänge mit erstaunlicher Leichtigkeit und Souveränität und ohne jede Larmoyanz bewältigt.
Und wenn diese so präzise geschriebene Geschichte bei all den psychologischen Feinheiten ganz und gar stimmig ist, so hat dies offensichtlich mit seinen eigenen Erfahrungen als Heimkind zu tun.

# Peter Henning: Bis du wieder gehst; 192 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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