TOM LIN: DIE TAUSEND
VERBRECHEN DES MING TSU
Ming Tsu hat seine in die USA eingewanderten chinesischen Eltern nie kennengelernt. Als
ihn der Weise Silas Root aus dem Waisenhaus holt, bildet er ihn zum Auftragskiller aus.
Einzeln fällt er zwar sofort auf, unter den chinesichen Lohnsklaven aber kein bisschen.
Und für Steckbriefe kann ihn kein Weißer unterscheiden oder gar beschreiben.
Jetzt schreibt man das Jahr 1869, der große Eisenbahnbau quer durch den Kontinent ist
vollendet. Ming Tsu hat soeben einen Mann erschossen. Was aber nicht zu seinen vielen
Dutzenden Auftragsmorden zählt, denn dieser Judah Ambrose war eine persönliche
Zielperson.
Damit beginnt Tom Lins Debütroman die tausend Verbrechen des Ming Tsu. Dazu
der eine negative Kritikpunkt zu diesem ansonsten nicht von Ungefähr bereits
preisgekrönte Werk: dieser Groschenhefttitel könnte manchen Leser mit gewissem Anspruch
abschrecken. Doch er ist kein Fehlgriff des Verlages sondern folgt dem Original.
Mings Geschichte zerrt auf drastische und packende Weise einen kaum beachteten Aspekt des
amerikanischen Rassismus ans Licht: den gegenüber den zehntausenden chinesischen
Arbeitern vor allem am Eisenbahnbau. Quasi rechtlos als misscahtete Verfügungsmasse
fristeten sie ihr karges und oft kurzes Leben.
Ming Tsus Weg in die ausgebeuteten Arbeitermassen der Central Pacific Railroad war
allerdings ein besonderer. Als Auftragskiller war er ebenso erfolgreich wie unauffällig,
beging dann jedoch den Fehler, sich in Ada zu verlieben, die Tochter eines reichen
Weißen. Als ihn die gegen den Willen des Vaters auch noch heiratete, brach die Hölle
gegen ihn los.
Die Schergen des Schwiegervaters schlugen Ming halb tot und verkauften ihn an die
Eisenbahngesellschaft. Doch Ming gelang schließlich die Flucht aus der Fron und in
Begleitung eines blinden Chinesen, den man Prophet nannte, startet Ming einen
Rachefeldzug, um die Männer zu eliminieren, die für sein Unglück verantwortlich waren.
Dieser Weg ist ein langer, entbehrungsreicher mit hohem Blutzoll. Auch die grandiose
Wildnis entlang der Eisenbahnlinie vom Utah Territorium quer durch Utah Richtung
Kalifornien geht die endlose Reise. Der greise Prophet ist dabei eine einzigartige Figur,
denn er kann weissagen und weiß von jedermann, wann er sterben wird. Nur nicht bei Ming
Tsu, denn der sei ein Mann ohne Schatten.
Und diese Geschichte entfaltet sich als Thriller und als Western mit magisch-mystischen
Elementen in einem einzigartigen Mix, der zwischendurch immer wieder wunderbare
literarische Sätze und Bilder funkeln lässt. Besonders fasziniert dabei das unglaubliche
Personentableau, vor allem als Ming und sein weiser Begleiter auf den fahrend Zirkus der
Wunderschau trifft und sich der kampferprobte Killer als Mann für die
Sicherheit engagiert lässt.
Veritabel Wunder haben der Ringmeister und seine Leute drauf wie Proteus, der hünenhafte
Gestaltwandler im Käfig, den Navaj Notah, der Erinnerungen löschen kann. Oder Hazel,
eine junge Schönheit, die feuerresistent ist. Präzise und schnell geschrieben verfolgt
man den in jeder Hinsicht hindernisreichen Zug dieser bunten Truppe. Kämpfe,
Entbehrungen, Anfeindungen und die archaisch schöne aber gefährliche Landschaft fesseln
mit immer neuen und oft drastischen Überraschungen.
In all diesen Strapazen vergisst Ming nie sein Ziel, wieder mit Ada vereint zu sein.
Dennoch ist Raum für eine intensive Annäherung zwischen ihm und Hazel und für souverän
eingefügte herbe romantische Elemente. Aber ob es ein Happyend geben kann? Auf jeden Fall
hat nicht erst der dritte Teil des Romans seine düsteren tragischen Passagen, die in
ihrer Kargheit zuweilen an den großen Cormac McCarthy erinnern.
Fazit: in Roman, der sich in keine Schublade einordnen lässt. Wer sich jedoch auf dieses
mit Leichen gespickte Meisterwerk einlass das im Übrigen hervorragend übersetzt
worden ist erlebt hier ein packendes literarisches Spektakel von seltener Brillanz.
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