JOHN BOYNE: ALS DIE WELT
ZERBRACH
Mit dem Jugendroman Der Junge im gestreiften Pyjama hatte der irische Autor
John Boyne 2006 seinen weltweiten Durchbruch. Für ganz junge Leser erzählte er darin
eine ungewöhnliche Holocaust-Geschichte um den Sohn des KZ-Kommandanten von Auschwitz,
der in eben diesem Vernichtungslager umkommt.
Der Neunjährige langweilt sich im öden Außenbereich des Vernichtungslagers, unwissend
über das, was dort vor sich geht. Am Zaun lernt er schließlich den gleichaltrigen
Schmuel kennen und freundet sich mit dem Jungen in der gestreiften Häftlingskleidung an.
Als der plötzlich seinen Vater vermisst, beschließt Bruno, unterm Zaun durchzukriechen
und Schmuel bei der Suche zu helfen. Zur Tarnung auch in solch einen Pyjama geschlüpft,
verschwindet er auf Nimmerwiedersehen.
Schon nach der Vollendung dieser Geschichte hatte John Boyne die Idee zu einer Fortsetzung
und die hat er nun unter dem Titel Als die Welt zerbrach vorgelegt. Diesmal
steht die drei Jahre ältere Schwester Gretel im Mittelpunkt und es ist ein Roman, den
selbst Erwachsene in manchen Passagen nur schwer werden ertragen können.
Die Ich-Erzählerin ist jetzt 91 Jahre alt und lebt als Witwe Fernsby in ihrer eigenen
Wohnung in einem vornehmen Londoner Stadtteil. In ihre zurückgezogene Beschaulichkeit
kommt ein großer Aufruhr, als in die Wohnung unter ihr der Filmproduzent Darcy-Witt mit
Frau und Sohn einzieht. Dieser Henry ist neun Jahre alt und wie ein Ebenbild Brunos,
dessen Namen sie seit damals nicht mehr auszusprechen vermag.
Lange Verdrängtes wird aufgewühlt und die Gefühle von Schuld und Mitverantwortung als
Tochter des Teufels - so die erste Kapitelüberschrift. Während sie
einerseits die Gegenwart schildert, in der sich Beklemmendes im Haus ausbreitet, wandern
die Erinnerungen in die Jahrzehnte der Versuche, der Vergangenheit durch Orts- und
Namenswechseln und immer neuen Lügen zu entkommen.
Der verbrecherische Vater ist bereits gehenkt worden, als sie mit der Mutter in Frankreich
ein neues Leben versucht. Doch sie fliegen bei ihrem Versuch eines neuen bürgerlichen
Daseins auf und erleiden Furchtbares bei einem hasserfüllten Tribunal, wie es sie in den
Nachkriegsjahren viele gab.
Nach dem Suizid der Mutter gelingt Gretel das Absetzen nach Australien, wo sie jedoch
ausgerechnet auf Kurt Kotler stößt, den einstigen persönlichen Adjutanten ihres Vaters.
Als Zwölfjährige war sie in den jungen SS-Obersturmführer verliebt, nun will sie den
mit neuer Identität Erfolgreichen auffliegen lassen.
In einem ebenso entlarvenden wie verstörenden Dialog kommen hier die Fragen von
Mitschuld, Komplizenschaft und Mitverantwortung heftig zur Sprache und auch Gretel kann
sich dem nicht entziehen. Zudem droht Kotler damit, ihre wahre Herkunft mit einem der
verhasstesten Namen der Welt preiszugeben.
Die schlimmste Schuld allerdings ist nicht die als Tochter eines Monsters, es ist die
wegen Brunos Tod. Ja, sie hatte sich über ihn geärgert, und ja, sie hatte ihn darin
bekräftigt, Schmuel zu helfen. Und dem steht in der Gegenwart in ihrem streng gehüteten
Refugium dieser Henry gegenüber, eingeschüchtert, drangsaliert und misshandelt wie auch
seine Mutter.
Die Schuld schlich sich in jeden glücklichen Moment und flüsterte einem ins Ohr,
dass man kein Recht auf dieses Glück habe - das war die stete Bitternis trotz eines
an sich guten Lebens in London seit der Flucht aus Sydney 1953. Kann sie ihr Gewissen ein
wenig lindern, indem sie diesmal Verantwortung übernimmt gegenüber einem Jungen
so ähnlich ihrem Bruder?
Das Alles entwickelt mit seinen authentischen Charakteren und Ereignissen einen ungeheuren
Sog und es ist gerade die gnadenlos nüchterne Sprache dieser einzigartigen
Ich-Erzählerin bei dieser doch so emotionalen Reise, die unter die Haut geht. John Boyne
zählt zu den größten Erzählern unserer Zeit und hier überbietet er sich nicht nur mit
einem grandiosen Finale selbst.
Im Übrigen sei hier die exzellente Übersetzung gelobt, die den wunderbar geschliffenen
Stil Boynes hervorragend herüberbringt. Wobei es einer kleinen Korrektur bedarf: Kurt
Kotler als SS-Offizier an der Seite des KZ-Kommandanten war mit Sicherheit nicht im Rang
eines Oberleutnants sondern eines Obersturmführers.
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