NIKKI ERLICK: „DIE VORHERSAGE“


Aus der griechischen Mythologie kennt man den schicksalhaften Lebensfaden. Was aber, wenn ein solcher ganz real und für alle Menschen wirklich auftauchen würde?
Genau das geschieht in „Die Vorhersage“, dem fulminanten Debütroman der US-Autorin Nikki Erlick. An einem gewöhnlichen Morgen im März sind sie plötzlich da: vor den Wohnstätten aller Menschen weltweit, die das 22. Lebensjahr vollendet haben, liegt ein Kästchen mit dem eingravierten Namen des jeweiligen Adressaten.
Dunkelbraun, kalt und glatt ist die Box mit der mysteriösen Inschrift „Das Innere birgt das Maß deines Lebens“. Tatsächlich findet sich darin unter einem silberweißen Stück Stoff ein einzelner Faden. Jeder hat eine individuelle Länge. Und gibt Rätsel auf, woher er kommt. Von einem göttlichen Boten, einer geheimen Regierungsorganisation oder gar von Außerirdischen?
Die anfängliche Aufregung über die Boxen, die sich als ebenso unzerstörbar erweisen wie auch die Fäden, steigert sich zu Chaos und Aufruhr verschiedenster Ausformung, als wissenschaftlich bestätigt wird, dass die Fadenlänge wirklich die Lebensdauer des Inhabers anzeigt. Sehr genau sogar und unerbittlich.
Wie sich das alles auf die Menschen auswirkt, wird dazu anhand sehr unterschiedlicher acht Personen erzählt. Da sind Nina und Maura, ein Paar, das Kinder will, nun aber entdeckt, dass ihre Fadenlängen sehr unterschiedlich sind. Der Arzt Hank erlebt Randale von „Kurzfaden“, die ohnehin generell in Verdacht als potentielle Terroristen geraten.
Viele Menschen mit wenig Restlebenszeit bilden in ihrer Not Selbsthilfegruppen, denn sie sind nicht nur von den trüben Zukunftsaussichten bedrückt – Versicherungen reagieren systemkonform, Kredite werden versagt und manchen Arbeitnehmern wird gekündigt. Und als wären diese von der kurzen verbleibenden Zeit nicht schon gestraft genug, nutzt Anthony Rollins all die Angriffspunkte gegen „Kurzfaden“ auch noch gnadenlos aus.
Der an sich chancenlose machtgeile Präsidentschaftskandidat – mit langem Faden! - fährt eine zynische populistische Kampagne und hat sogar Erfolg damit. Doch es gibt auch zahlreiche Menschen, die ihren Ängsten und der Neugier widerstehen und ihre Box nicht öffnen.
Aber auch für „Langfaden“ birgt ihr vermeintliches Glück heimtückische Risiken, denn die Fadenlänge garantiert ja nur die Dauer des Lebens. Wie insbesondere Hazadeure erfahren müssen, die nach wagemutigen Kapriolen zum Beispiel als Krüppel oder im Koma noch viele wenig erfreuliche Jahre vor sich haben.
Die einzelnen Schicksale wechseln einander in schneller Folge ab. Der rote Faden dieses literarisch eher einfachen Romans ist dabei weniger eine große durchgehende Handlung als vielmehr die Wirkung, die die Boxen mit ihren Inhalten entfalten.
Wobei deren Herkunft offen bleibt, vielmehr fesselt dieser dystopische Gesellschaftsroman als Gedankenexperiment und das hallt unweigerlich lange nach.

# Nikki Erlick: Die Vorhersage (aus dem Amerikanischen von Sabine Thiele); 475 Seiten; Heyne Verlag, München; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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