REBECCA WRAGG SYKES: „DER VERKANNTE MENSCH“


1856 wurde der Neanderthaler entdeckt und bald schien sein Bild ausführlich und dauerhaft geprägt zu sein, Danach war die vor zehntausenden von Jahren ausgestorbene Gattung grobschlächtig, primitiv und wohl eher mit dem Affen verwandt.
Erst allmählich entdeckte die Forschung, wie nah die Verwandtschaft zwischen dem vermeintlich tumben Grobian aus trostloser Eiszeitödnis und dem viel moderneren Homo sapiens war. Wie sehr und welch verblüffende Erkenntnisse die Forschung dazu mittlerweile zutage gefördert hat, beschreibt die britische Archäologin Rebecca Wragg Sykes in einem bereits preisgekrönten erzählenden Sachbuch.
„Der verkannte Mensch. Ein neuer Blick auf Leben, Liebe und Kunst der Neanderthaler“ lautet der Titel und die Expertin macht schon in der Einleitung klar, dass das gesamte bekannte Wissen eines definitiv bestätigt: Neanderthaler und Homo sapiens sind zwei eigene Varianten des Menschen.
Wissenschaftlich unterstrichen wird diese Erkenntnis allein schon durch die inzwischen wegweisende Disziplin der Paläogenetik. Nach ihr haben zumindest die eurasischen Menschen zwischen 1,8 und 2.6 Prozent Neanderthal-DNA in ihrer Genetik. Im Übrigen müssen sie sich inmmerhin biologisch ähnlich genug gewesen sein, um sich bei ihren frühzeitlichen Begegnungen erfolgreich miteinander fortpflanzen zu können.
Fest umrissen ist auch, dass sie in den zehntausenden Jahren ihrer Existenz eben nicht nur in eiszeitlichen Regionen sondern in ganz Eurasien verbreitet waren und mit den Lebensbedingungen in Gebirgen, Steppen und Wüsten ebenso gut umgehen konnten. Die Archäologin beschreibt detailliert an einer erstaunlichen Fülle von Funden, welche handwerklichen und sogar künstlerischen Talente die vermeintlichen Primitivlinge hatten.
Auch die Darlegungen über das Jagdwesen und die Ernährung, über das familiäre und soziale Gefüge bis hin zum Umgang mit dem Tod lassen immer wieder staunen. Und sie zeigen, wie sehr es zutrifft, wenn die Neanderthaler hier als „Verwandte“ bezeichnet werden, was unter allen Aspekten mittlerweile als wissenschaftlich korrekt zu bewerten ist.
Rebecca Wragg Sykes beseitigt endgültig so manches überkommene Vorurteil und genauso spannend wie die eben nicht spektakulären Unterschiede zwischen den beiden Menschengattungen stellen sich die Gleichheiten dar. Ein Rätsel allerdings bleibt bis heute: warum diese Spezies, die Jahrtausende lang härteste Klima- und andere Lebensbedingungen gemeistert hat, dann – im Sinne von erdgeschichtlichen Maßstäben – so plötzlich ausgestorben ist.
„Der verkannte Mensch“ ist ein ebenso meisterhaftes wie faszinierendes Sachbuch zur Menschheitsgeschichte, sehr anschaulich und lebendig geschrieben und voller Überraschungen.

# Rebecca Wragg Sykes: Der verkannte Mensch. Ein neuer Blick auf Leben, Liebe und Kunst der Neanderthaler Uas dem Englischen von Jürgen Neubauer); 512 Seiten, div. Abb.; Goldmann Verlag, München; € 24

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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