ABDULRAZAK GURNAH:
NACHLEBEN
Wer könnte die Geschichte des deutschen Kolonialismus in Ostafrika besser literarisch in
den Griff bekommen als der britisch-tansanische Autor und Literaturprofessor Abdulrazak
Gurnah? Auf Sansibar geboren, stammt er genau von dort, wo von 1885 bis 1918 die Deutschen
als Kolonialherren herrschten.
Gurnah schrieb seinen Roman unter dem Titel Nachleben ein Jahr besovr er 2021
für sein schaffen mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das Entscheidende an
seinem Werk aber ist, dass er dem Kolonialgeschehen eine afrikanische Stimme gegeben hat.
Die Ereignisse setzen noch vor dem Ersten Weltkrieg ein, als die deutsche Kolonialmacht
mit solch strenger Hand gegen die Revolten verschiedener Stämme vorging, dass sie sich
den Ruf besonderer Brutalität erwarb. Doch es waren vor allem die Askaris, die aus
verschiedenen Ethnien und Religionsangehörigen zusammengewürfelte
Schutztruppe, die für ihre Gewalttätigkeit gefürchtet wurde.
So bunt gewürfelt diese häufig nicht ganz freiwillig dienenden Söldner auch sein
mochten, so deutsch gebärdeten sie sich mit Blasmusik und deutschen Uniformen. In diese
von den deutschen Offizieren strikt geführte Truppe traten auch Hamza und Ilyas ein,
wenngleich aus sehr unterschiedlichen Motiven.
Da wird der Werdegang des Einen geschildert, der aus ärmsten Verhältnissen an einen
Kaufmann verdingt wurde und dessen Sklavenhaltertum entfliehen wollte. Ilyas dagegen wurde
in einer deutschen Missionsschule erzogen und schloss sich den Askaris dann aus
Überzeugung an. Das Regiment dort ost brutal, der sehr junge und sehr hübsche Hamzah hat
allerdings das zweifelhafte Glück, dem deutschen Oberleutnant sehr zu gefallen.
Ob der auch ein sexuelles Interesse an dem Teenager hatte, kann man nur vermuten. Immerhin
bringt ihm dieser Offizier Lesen, Schreiben und Deutsch bei. Zugleich ist die
Vorzugsbehandlung später auch der Auslöser für eine furchtbare Züchtigung durch den
grobschlächtigen Feldwebel.
Die militärischen Feldzüge sind grausam und hinterlassen eine breite Blutspur. Nur mit
viel Glück überlebt Hamzah eine schwere Verwundung wie auch den gesamten Krieg. An
Entbehrungen von jeher gewöhnt, gelingt ihm eine Ausbildung zum Tischler und schließlich
sogar ein bescheidenes Familienglück mit Afija, der Schwester von Ilyas.
Auch deren Schicksal wird ausgiebig eingebunden und sie ist beispielhaft für die
Sklaverei vieler Einheimischer und insbesondere weiblicher. Nach dem Krieg ist es nun das
Schicksal ihres Bruder, das sie bekümmert, denn Ilyas gilt als verschollen.
An seinen Tod wollen Afija und Hamza aber einfach nicht glauben und hier sind es die
Deutschkenntnisse des ehemaligen Askari, die eine Suche ermöglichen. Die schließlich
sogar auf eine Spur führt nach Deutschland. Und hier nun wird endgültig deutlich,
wie nah Abulrazak Gurnah in diesem exemplarischen Roman den realen historischen
Ereignissen folgt.
Das ist stark an die Geschichte des Askari Bayume Mohamed Husen (1904-1944) angelehnt, dem
es 1929 gelungen war, ins Deutsche Reich zu gelangen. Wo er erfolglos versuchte, die den
Schutztruppen tatsächlich gezahlte Rente zu bekommen. Ihm fehlten Papiere, gleichwohl
blieb er und heiratete sogar eine deutsche Frau.
War ihm das im Januar 1933 noch unbeanstandet durchgegangen und hatte er sogar eine kleine
Karriere als Schauspieler in etlichen Nazi-Filmen gemacht, war sein Ende einer bitteren
Ironie geschuldet. Nach Erlass der Rassengesetze von 1935 ließ er sich mit einer anderen
deutschen Frau ein. Was ihn wegen Rassenschande ins KZ brachte, wo er 1944 umkam.
Dass das alles unter die Haut gehzt, ohne anklägerisch zu klingen, liegt an der
besonderen Qualität, wie Gurnah mit nüchterner schnörkelloser Sprache nicht bewertet
oder verurteilt. Er lässt das Geschilderte einfach wirken. Und alles beruht auf
Ereignissen, die so oder ähnlich geschehen sind: Kolonialgeschichte, wie sie wenig
bekannt ist. Und schon gar nicht aus afrikanischer Perspektive, der Perspektive der
Betroffenen.
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