JESSICA DURLACHER: „DIE STIMME“


Die Fernseh-Talentshow „Die Stimme“ von Radio Hilversum ist sehr populär. Für Jessica Durlachers neuen Roman spielt sie eine zentrale Rolle. Zunächst aber brilliert die niederländische Erfolgsautorin mit einem Prolog von mitreißender Intensität.
Ich-Erzählerin, daheim in Amsterdam als Psychoanalytikerin tätig, wird bei einem New York-Trip von ihrem langjährigen Partner Bor überrascht. Nach zehn Jahren des Sträubens gegenüber einer Eheschließung – trotz zweier gemeinsamer Kinder – macht er ihr geradezu beiläufig einen Heiratsantrag. Und er findet sogar einen Rabbi, der zur Trauung bereit ist, obwohl Zelda keine Jüdin ist.
Alles ist wenig romantisch, als sie an einem sonnigen Dienstag, man schreibt den 11. September 2001, um 8.20 Uhr pünktlich in einem Hochhaus in Manhattan den Akt durchlaufen. Und dann erschüttert ein gewaltiger Donner das Ende der Zeremonie und fassungslos sehen sie nicht nur Feuer und Rauch in den Zwillingstürmen, sondern sogar Menschen aus den oberen Stockwerken den oberen Stockwerken springen.
Aus jenem World Trade Center, in dessen Dach-Café sie noch gestern Kaffee getrunken haben. Durch Staubwolken und Trümmer entfliehen sie dem Chaos, das Trauma aber lässt sie nie wieder los. Dabei trägt Zelda ohnehin eine alte kaum vernarbte Wunde mit sich herum, denn ihr erster Ehemann Hermann, ihre erste große Liebe und Vater des bereits 15-jährigen Philip, hatte sich vor zehn Jahren umgebracht.
Heimgekehrt nach Amsterdam, lernt der musikalisch hochbegabte Sohn Sam beim Musizieren Amal kennen, eine wunderschöne Somalierin. Die Kinder können die Eltern dazu überreden, die Muslima als Nanny zu engagieren, auch um sie zu unterstützen. Dann kommt es zu einer schicksalhaften Idee: die ganze Familie ist so überwältigt von Amals faszinierenden Gesangskünsten, dass sie sie zur Talentshow „Die Stimme“ schicken.
Natürlich begeistert Amal auch Jury und Zuschauer, doch sie begleitet ihren Auftritt außerdem mit dem Ablegen von Abaya und Hidjab. Vor laufenden Kameras und gefolgt von einem Aufschrei in islamistischen Kreisen. Amals Familienclan verhängt sogar eine Fatwa gegen „die Hure und Abtrünnige“.
Von nun an kann Amal sich nur noch unter dem Schutz von Bodyguards bewegen. Da aber Zelda und Bor sie auch weiterhin unterstützen, geraten sie ebenfalls in den Bannstrahl der hasserfüllten Fundamentalisten. Da sind dramatische Folgen vorgezeichnet, dabei wollte Amal dich nur ihre Freiheit und Zelda einfach nur ein guter Mensch sein...
Fazit: ein eindringlicher psychologischer Roman in brillanter Prosa über Familie, Loyalität und Engagement vor dem Hintergrund ganz realer Ereignisse der Weltgeschichte.

# Jessica Durlacher: Die Stimme (aus dem Niederländischen von Annelie Bogener); 495 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 25

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 1669 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de