STEPHEN KING: „FAIRY TALE“


Stephen King, einer der meistgelesenen Autoren aller Zeiten, hat sich und seiner riesigen Fan-Gemeinde zum jetzigen 75. Geburtstag ein besonders gemacht. Schon lange wollte er mal ein Märchen schreiben und in langweiligen Momenten während der Corona-Zeit kam ihm die zündende Idee dazu.
Mit dem englischen Wort für Märchen „Fairy Tale“ ist er opulente Roman überschrieben und eines sei vorweg gesagt: das ist nichts für Kinder, denn es geht zuweilen recht deftig zu samt Grausamkeiten und Blutvergießen. Zunächst allerdings lässt sich der unerschöpfliche Geschichtenerfinder Zeit. Ausgiebig wird Charly Reade vorgestellt, der 17-jährige Ich-Erzähler
Früh hat er seine Mutter durch einen Unfall verloren, in dessen Folge sein Vater dem Alkohol verfiel. Sportlich ist der großgewachsene Charlie, aber auch recht in sich gekehrt wegen der belastenden Lebensumstände. Da wird er unversehens zum Lebenretter für den alten, als unnahbarer Griesgram gefürchteten Mister Bowditch.
Der ist von der Leiter gestürzt und seine betagte Hündin Radar hat so gejault, dass sich Charlie ein Herz fasste, über den Zaun zu klettern. Mit seinem offenen Beinbruch hätte der Alte die kalte Aprilnacht vermutlich nicht überstanden. Es wird der Beginn einer ziemlich unwahrscheinlichen Freundschaft.
Mit unabsehbaren Folgen, als der grantige Alte einige Zeit später doch noch stirbt und Charlie mit dem Alleinerbe überrascht. Wozu nicht nur das heruntergekommene Haus gehört sondern auch ein großes wertvolles Grundstück. Entscheidend aber ist der Schuppen darauf, weil der wirklich ein Geheimnis verbirgt.
Zuvor aber lernt Charlie diesen Adrian Howard Bowditch durch die von diesem besprochenen Kassetten erst einmal näher kennen. Und erfährt Unglaubliches, denn sein seltsamer Freund offenbart ihm, bereits 1884 geboren worden zu sein. 1972 sei er dann auf Reisen gegangen und: „Drei Jahre später, 1975, kam ich als mein eigener Sohn wieder.“ Damals siedelte er sich hier in Sentry's Rest an.
Entscheidend aber wurde ein gefährliches Unglück, als er auf diesem Grundstück in ein tiefes Erdloch fiel. Das allerdings ausgekleidet war und auf 185 Stufen und dann durch einen Korridor in eine andere Welt führte. Bowditch nannte das Loch „Weltenbrunnen“ und aus naheliegenden Gründen versteckte er den unter dem Schuppen, den er darüber baute.
Damit und nach immerhin fast 300 Seiten – die aber nie langweilig sind – eröffnet sich das eigentliche Märchen. Und der Autor hat bei aller Fantasie auch auf zahlreiche weltberühmte Überlieferungen zurückgegriffen. Da entdeckt man im Folgenden zum Beispiel Elemente von Hänsel und Gretel, Rumpelstilzchen, den Zauberer von Oz und vielen mehr.
Womit nun wirklich die Post abgeht, als sich Charlie in diese Anderwelt traut. Er betritt das einst blühende Königreich Empis, das zwar magisch ist, jedoch seit geraumer Zeit von bösen Mächten beherrscht wird. Dabei scheint alles schön und wundersam mit blühenden Wiesen und dem gläsernen Palast.
Doch das Böse hängt über dem Land, seit die Königsfamilie gestürzt wurde und allseits die „graue Krankheit“ auf furchtbare Weise grassiert. Die Menschen, die Charlie trifft, haben verwüstete Gesichter, die grau werden und ihre Konturen verlieren. Auch die Prinzessin, auf die die Hoffnungen gerichtet sind, falls sie dereinst gesunden sollte, hat keinen Mund.
Es geht rabiat zu unter der Knute der – ebenfalls entstellten – Flugtöter und deren König Elden erweist sich als besonders ekelhaft und auch ekelerregender Typ. Stephen King vreitet seine ganze Meisterschaft des Grusels aus, als Charlie zum Hoffnungsträger wird, jedoch in einem ganz üblen mittelalterlichen Kerker landet.
Es sei nur noch verraten, dass der Held wider Willen es mit immer neuen Schauergestalten zu tun bekommt und sogar in einem aberwitzigen Turnier um sein Leben kämpfen muss. Doch Autor King macht mit diesem mitreißenden Epos ja nicht nur sich und seinen Fans ein Geschenk – er ist dazu auch noch so milde gestimmt, dass er das wilde Märchen ganz bewusst mit einem Happyend-Kapitel abschließt.
Und spätestens hier sollte man auf all die kritischen Hintergedanken verweisen, mit denen Stephen King die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen seines Heimatlandes mal raffiniert, mal plakativ aufleuchten lässt. Fazit: vielleicht nicht jedermanns Geschmack und schon gar nichts für ganz junge Leser, aber auf seine Weise ein Meisterwerk.

# Stephen King: Fairy Tale (aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt); 877 Seiten; Heyne Verlag, München; € 28

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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