SERHII PLOKHY: DAS TOR EUROPAS.
DIE GESCHICHTE DER UKRAINE
Nach russischer Lesart gibt es kein ukrainisches Volk mit eigener Identität und Anspruch
auf eine eigene Staatlichkeit. Diese Behauptung und die angebliche volksfeindliche
Naziherrschaft sind denn ja auch Anlass und Rechtfertigung für das, was der Kreml nicht
mal einen Krieg zu nennen erlaubt.
Aber gibt es wirklich keine legitime ukrainische Nation, keine ukrainische
Identität und keine ukrainische Geschichte? Eine umfassende wissenschaftliche Darstellung
dazu liefert Serhii Plokhy mit seinem Buch Das Tor Europas. Die Geschichte der
Ukraine. Die Urfassung verfasste der vielfach ausgezeichnete Professor für
ukrainische Geschichte an der amerikanischen Harvard University bereits 2015.
Damals war die gewaltsame Annexion der Krim im Jahr 2014 der Auslöser für diese große,
detaillierte Studie. Für die jetzt aktualisierte Fassung betont der Historiker, dass er
sie trotz der kriegerischen Ereignisse der letzten Monate nur in den letzten Kapiteln
geringfügig bearbeitet habe. Und er fügt im Vorwort für die hiesigen Leser einen
wichtigen Ansatz ins Licht: ihm gehe es darum, die Geschichte des Landes und seiner
Menschen in Deutschland von der Dominanz der russischen Geschichtsschreibung zu
lösen.
Zur Einleitung erinnert Plokhy an die Entstehung des heutigen Staates Ukraine durch das
Referendum vom 1. Dezember 1991, als sich bei einer Beteiligung von 84 Prozent der
Bevölkerung über 90 Prozent für die Unabhängigkeit aussprachen. Wobei im Übrigen auch
stark russische geprägte Landesteile wie der Donbas und die Krim mit deutlicher Mehrheit
dafür stimmten.
Das war nach der kurzen Spanne von 1918 bis 1920 erst die zweite offizielle Staatswerdung
unter dem Namen Ukraine. Der Experte geht jedoch auf Ursprünge zurück, die
bis zu Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus reichen, der das Gebiet als Pontos euxeinos
(gastliches Meer) bezeichnete. Der eigentliche Beginn einer Form der
Staatlichkeit reicht allerdings immerhin bis ins 9. Jahrhundert zurück, als sich Wikinger
hier grundsätzlich Waräger genannt am Dnipro ansiedelten.
Es waren die Wikinger der Rus, der Männer, die rudern, die den Grundstein
für das Kyjiwer Reich legten. Damit entstand bereits im Mittelalter ein Vorläufer der
Ukraine als territorialer Staat. Der mit der einsetzenden Christianisierung zunehmend
slawischer wurde. Holten konnte sich die Herrscherdynastie der sogenannten
Rurikiden-Fürsten bis zum Einfall der Mongolen Mitte des 13. Jahrhunderts halten.
Der 7. Dezember 1240 wurde dann zu einem bis heute ausstrahlenden Datum, denn nach der
Eroberung Kyjiws zerfiel die politische und kirchliche Einheit der Rus in den russischen
Teil Wladimir-Susdal und den der zentralen und der westlichen Ukraine mit den
Fürstentümern Galizien und Wolhynien. Im ukrainischen Bereich endete die
Mongolenherrschaft bereits Mitte des 14. Jahrhunderts, während das sogenannte
Tatarenjoch über das russische Gebiet noch bis 1480 währte und zudem
erheblich repressiver war. Ein Unterschied, der sich tiefgreifend auswirken sollte.
Ende des 14. Jahrhunderts kamen die ukrainischen Territorien unter die Herrschaft Polens
und Litauens und in der Lubliner Union von 1569 trennte die polnisch-litauische
Adelsrepublik die Ukraine von Belarus und legt damit endgültig den Grundstein für das
Territorium der heutigen Ukraine wie auch für die Identifikation seiner Eliten mit diesem
Gebiet, nachdem bereits 1187 erstmals der Begriff Ukraine in einer Chronik
verwendet wurde.
Die viel spätere Staatlichkeit als Ukraine wurde 1920 von Polen und jungen Sowjetunion
militärisch beendet. Und es kam noch viel schlimmer für die einverleibte Sowjetrepublik,
als Anfang der 30er Jahre auf Stalins Geheiß der Holodomor Millionen Ukrainer Hungers
sterben ließ, um ihren Widerstand zu brechen. Im Zweiten Weltkrieg war die von Hitler
heiß begehrte Kornkammer im Osten nicht nur ein Hauptschlachtfeld, hier
wütete der Holocaust gegen die Millionen chassidischen Juden am barbarischsten.
Um so makaberer nahm sich dann 1945 Stalins Anordnung aus, nach der die Sowjetrepublik
Ukraine (wie auch die Sowjetrepublik Belarus) neben der UdSSR einer der Gründerstaaten
der UNO wurde. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie der Geschichte, dass sie der
mächtigen Sowjetunion mit ihrer Unabhängigkeitserklärung vom Dezember 1991 den
Todesstoß gab.
Die Ukraine als ein zentraler Staat zwischen dem westlichen Europa und dem zu einem
einfachen Staat geschrumpften russischen Imperium das schürte im Kreml
Unmut und Begehrlichkeiten und ließ verantwortungslose Politiker Recht, Moral und
Menschlichkeit vergessen. Dieses hervorragend geschriebene und auch für den
interessierten Laien gut zu lesende Sachbuch offeriert eine kompakte Gesamtgeschichte, die
die aktuellen Ereignisse besser einzuordnen hilft.
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# Serhii Plokhy: Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine (aus dem
Englischen von Anselm Bühling, Bernhard Jendricke, Stephan Kleiner, Stephan Pauli und
Thomas Wollermann); 557 Seiten, div. Karten; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; 30
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
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