STEPHAN ABARBANELL: „10 UHR 50 GRUNEWALD“


Walther Rathenau (1867-1922) war eine herausragende Persönlichkeit der deutschen Geschichte. Eher unfreiwillig ins Amt des Reichsaußenministers gekommen, gelangen ihm nach dem Ersten Weltkrieg einige wichtige Weichenstellungen im Sinne des Deutschen Reichs.
Zuletzt 1922 der Rapallo-Pakt, der zu einer Einigung mit der jungen Sowjetunion führte. Für die rechtsextremen Nationalisten galt dies als Verrat, als Ausverkauf Deutschlands, und sie beschlossen ihn zu ermorden. Im Berliner Grundewald erschossen sie ihn dann am 24. Juni 1922. Der Schriftsteller und evangelische Theologe Stephan Abarbanell nahm diesen fatalten politischen Mord als Auslöser für einen biografischen Roman zur Ausnahmeerscheinung Walther Rathenow.
Er gab ihm den Tatort und Tatzeit als Titel: „10 Uhr 50 Grunewald“. Mit dem Kunstgriff, den Minister auf seiner letzten Fahrt Erinnerungen und Gedanken nachhängen zu lassen, porträtiert er einen höchst komplexen Menschen. Der eingangs über das nur aus Pflichtgefühl angenommene Amt reflektiert. Vor dem hatte ihn seine Mutter eindringlich gewarnt: Kein Jude kann in diesem Land Minister sein.“
Rathenau bekannte sich zwar zum Judentum, sah sich jedoch vor allem als Deutscher. Doch er ist auch der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau und damit ein Kapitalist, ein Mann der Oberschicht, der sogar von Kaiser Wilhelm II. empfangen wurde.
Aber der als Linker in der liberalen DDP geltende Feingeist ist nicht nur ein politischer und unternehmerischer Kopf, er hat eine ausgeprägte musische Seite mit einem Hang zur Bohème. Wobei seine latente Homosexualität im Widerstreit mit seinem mehr als innigen Verhältnis zur Industriellengattin Lilly Deutsch steht. Jude, Weltbürger und Patriot, der charismatische Lebemann war eine zwiegespaltene Persönlichkeit. Begegnungen mit Lilly, aber auch sein Umgang mit dem jungen Fotografen Amos Roth (eine erfundene Figur), der dem zionistischen Ruf nach Palästina folgen will, zeigen prägende Momente eines weitsichtigen Politikers, der sein Amt „in dieser vielleicht unrettbaren Republik“ meisterhaft ausübt und zugleich pessimistisch in die Zukunft schaut.
Wenn er dann von Bernhard Weiß, dem (historisch echten) Chef der Berliner Kriminalpolizei, auf die Abschussliste der Rechtsextremisten der „Organisation Concul“ hingewiesen wird – auf der er ganz oben steht – dann scheint eine dunkle Melancholie durch. Rathenau weiß sehr wohl um seine Gefäührdung als „Jude und Verräter“ und dennoch führt er auch an diesem Samstag im Juni 1922 im offenen Wagen und ohne Polizeischutz seine gewohnte Route in Ministerium.
Die Trauerfeier für diese Symbolfigur der Weimarer Republik war die wohl größte auf deutschen Boden mit Millionen Menschen. Wer der Gemeuchelte wirklich war, werden die wenigsten von ihnen so recht gewusst haben. Dieser hochintelligente spröde Roman vor sehr realem Hintergrund und gestützt auf Briefe, Tagebücher und viele Publikationen gibt ihm und seinem Wirken Konturen und er kommt der Realität vermutlich recht nahe.

# Stephan Abarbanell: 10 Uhr 50 Grunewald; 254 Seiten; Blessing Verlag, München; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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