ANDREAS SCHÄFER: DIE SCHUHE
MEINES VATERS
Entscheiden, wann die Maschinen abgestellt werden, also demjenigen, dem man das
Dasein verdankt, das seine nehmen. Das dürfte für jeden Menschen die größte
denkbare Zumutung sein. Andreas Schäfer hat sie vor vier Jahren erlebt und schließlich
eine Art Nonfiktion-Roman daraus gemacht.
Die Schuhe meines Vaters hat er ihn überschrieben und er deutet damit an, wie
er nach der englischen Weisheit to walk in someone else's shoes nicht nur das
Geschehen durchlitten sondern dann auch ein Kennenlernen nach dem Abschied angegangen ist.
So kompliziert wie dieser Vater in sich war, so komplex hatte sich auch von jeher das
Verhältnis zwischen dem Vater und dem älteren Sohn gestaltet. Erst seit der Geburt der
inzwischen zwölfjährigen Enkeltochter hatte sich das Miteinander etwas entspannt,
wogegen das Verhältnis zwischen dem Eigenbrötler und seiner seit langem geschiedenen
griechischen Ehefrau überraschend freundlich verlief.
Nun aber mit 81 Jahren hatte der in Frankfurt lebende Vater erfahren, dass eine frühere
Krebserkrankung offenbar wieder aufgebrochen war und vermutlich metatastasiert hatte.
Bevor er sich nun einer klärenden Biopsie unterziehen will, besucht er Sohn und
Enkeltochter in Berlin. Beschwerdefrei und aufgeräumt wie lange nicht, werden es
angenehme Tage mit guten Gesprächen.
Um so bestürzender dann gleich nach der Heimfahrt der schockierende Anruf aus der Klinik:
es sei bei der Biopsie leider zu Komplikationen mit irreparablen Schäden gekommen. Der
Vater liege im Koma und sei nur noch künstlich am Leben zu halten. Wie gelähmt folgt der
Sohn den sachlichen Ausführungen des Oberarztes: Solange ich seine Stimme hörte,
war ich nicht allein mit meinem Entsetzen.
Bevor der Ich-Erzähler diesen Schritt wirklich vollenden kan, also die Maschinen
abzustellen, die das künstliche Koma aufrecht erhalten, und den Tod herbeizuführen, muss
er diesen so fernen Vater erst richtig kennenlernen, um ihn loslassen zu können. Da geht
es dann um weit mehr als nur das eigene Erleben mit dem Vater und vieles aus dessen
Vergangenheit wird erst jetzt auch dank dessen Aufzeichnungen verständlich.
Vor allem aber kommen auch die Traumata des Vaters insbesondere aus der Kindheit in
Berliner Bombennächten zum Vorschein. Sie machen manches verstehbarer wie dann auch der
Bruch in der Familie, als er eine Frau aus Griechenland heiratet. Präzise, mit
wohltuender Distanz und zugleich tief berührend schildert Andreas Schäfer dieses
Aufarbeiten. Und schließlich den beklemmenden Moment des Abschaltens. Dem eine
Überraschung erfolgt, denn der oft so nörglerische Vater stirbt mit einem Lächeln auf
dem Gesicht.
In der zweiten Hälfte des Buches geht der Sohn den Spuren des Vater weiter nach, besucht
auf der Suche nach dem, was diese Vaterfigur wirklich ausgemacht hat, auch jene Plätze
vor allem in der griechischen Heimat seiner Frau an denen er vermutlich
seine glücklichsten Momente erlebte.
Fazit: diese Erinnerung an Abschied und Kennenlernen des Vaters ist ein bewegendes Stück
Literatur und wird vor allem auch wegen der Meisterschaft der Darstellung niemanden
unberührt lassen.
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