GERHARD ROTH: „DIE IMKER“


Gerhard Roth, geboren 1942, war einer der eigenwilligsten und zugleich produktivsten Autoren Österreichs. Kurz vor seinem Tod in diesem Februar legte er seinen letzten Roman gewissermaßen als Vermächtnis seines Schaffens vor. Und es sei vorweg gesagt: „Die Imker“ sind eine grandiose Quersumme seines Lebenswerks.
Dazu stellt er jenen Franz Lindner als Ich-Erzähler in den Mittelpunkt, der bereits 1984 in seinem herausragenden Roman „Landläufiger Tod“ der Held war. Der ist jetzt 62 und lebt als schizophrener Patient in der „Anstalt für Art-brut-Künstler“ (das heutige Art/Brut Center Gugging war bis 2007 tatsächlich die Landesnervenklinik!). Wegen einer angeblichen Morddrohung lebt er hier unter dem neuen Namen Wilhelm Herman.
„Hier bin ich mit mir allein, was das größte aller Abenteuer ist.“ Während er erneut versucht, eine seiner sogenannten Halluzinationen niederzuschreiben, zieht jedoch ein weit größeres Abenteuer herauf, nicht weniger als eine Art Weltuntergang. Genau am 1. April legt sich ein gelber Nebel über den Planeten.
Geistesgegenwärtig hatte Lindner im letzten Moment erst seinen Neffen ins Haus gelassen und es dann hermetisch abgeriegelt. Als sich der Nebel verzieht und Lindner mitsamt Mitpatienten und Ärzten nachschaut, sehen sie überall abgestürzte Hubschrauber, Unfallautos und dergleichen, aber – nirgends Opfer. Allerdings um so erschreckender Kleidung, Schuhe, Gebisse, als hätten sich deren Träger einfach spurlos aufgelöst.
Eine offensichtlich allumfassende aber unblutige Apokalypse: „Ich verstand nur, dass ich nichts verstand.“ Gleichwohl machen sich die Überlebenden aus der Anstalt auf die Suche, Lindner mit seinem Neffen Eugen, dessen Sohn Walter und Hündchen Gazpacho. Sie kommen durch Trümmerlandschaften voller bizarrer Anblicke.
An einem Steinbruch finden sie eine Unterkunft und treffen auch wenige andere leibhaftige Menschen, allen voran eine Gruppe aus einem SOS-Kinderdorf, die während des Nebels wegen schlechten Wetters tief in einer Berghöhle Unterschlupf gefunden hatte. Und offenbar sind auch nicht alle Tiere aufgelöst, vor allem trifft Lindner auf Bienenvölker.
Als Sohn eines Imkers führt er nun das – sehr plastisch geschilderte – große Bienenkunststück vor. Das allerdings auf schmerzliche Weise missglückt. Dafür kann er jetzt auf unerklärliche Weise gedanklich unter anderem mit einem Krähenschwarm kommunizieren. Und dann geht der ebenso schweigsame wie störrische Ich-Erzähler mit seinem Mitpatienten Maori auf eine skurrile Erkundungsfahrt durch ein geisterhaftes Österreich und durch ein fast menschenleeres Wien.
Von Winter im September begleitet, klauben sie alles zusammen, was fürs Überleben sinnvoll erscheint. Als sie dabei auf ein afrikanisches Paar treffen, fällt der Mann Schüssen von Räubern zum Opfer, wogegen Lindner mit der Frau eine Liebesbeziehung beginnt. Doch sein Weg durch diese dystopische Welt führt zu immer neuen Überraschungen mit surrealen Bildern und Gedankenexperimenten in einem grenzenlosen aber meisterhaften Delirium des Erzählens. Alles scheint möglich und nichts gibt Sicherheit: „Das war der größte Verlust.“ Und dass dann noch mehr Überlebendengruppen auftauchen, wird da sogar eher zur Bedrohung.
Unschwer ist viel Autobiografisches in diesem Roman zu entdecken, die pessimistischen Weltsichten eines großen Literaten, der schon seit den 70er Jahren ganz reale Freundschaften zu den Guggigner Künstlern pflegte. Und dann sagt das sogenannte Nachwort, dass dies die Aufzeichnungen des verstorbenen Franz Lindner seien. Deren letzte Anordnung lautete: VERBRENNEN.
Was zum Glück rein fiktiv geschrieben ist, denn die Vernichtung dieses Nachlasses wäre der unschätzbare Verlust eines abschließenden faszinierenden Meisterwerkes gewesen. Das im Übrigen mit 13 Aquarellen von Erwin Wurm illustriert ist.

# Gerhard Roth: Die Imker; 551 Seiten, farbig ill.; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 32

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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