LEA YPI: FREI
Lea Ypi war elf Jahre alt, als das total abgeschottete System, das ihr Heimatland Albanien
jahrzehntelang mit eiserner Hand beherrschte, im Rahmen des Zusammenbruchs des Ostblocks
kollabierte. Bis 1990 war dieses Land in der unbarmherzigen Hand von Diktator Enver
Hodscha für sie allerdings ein Ort der Geborgenheit gewesen, der Lernens, der Hoffnung.
Und der Freiheit, wie sie von allen für sie bis dahin definiert worden war. Um so
größer dann der Schock, als ihr eine Gewissheit nach der anderen genommen wurde und sich
auch die neue Freiheit nicht nur als sehr fragwürdig erwies, sondern sogar zu Chaos und
Bürgerkrieg führte. Aus all ihrem Erfahrungen legt Lea Ypi nun Zeugnis ab in Form von
Memoiren einer Kindheit und Jugend unter dem Titel Frei.
Wobei der Untertitel Erwachsenwerden am Ende der Geschichte die Vorgabe setzt:
das Vor und das Nach dem Umbruch schildert sie als Erlebtes, als direkte Zeitzeugin. Erst
im Epilog tut die jetzige Professorin für Politische Theorie an der London School for
Economy ihre heutige eigene politische Position kund. Ypi geht denn auch weniger auf den
gedanklichen Überbau der albanischen Volksrepublik ein, die nach den Brüchen mit Titos
Jugoslawien, Chruschtschows Sowjetunion und dann sogar mit Maos China zu einer Festung
eines Steinzeitkommunismus wird, wie man ihn sonst nur noch in Nordkorea findet.
Die Autorin schildert vielmehr einen Alltag, der aus heutiger Sicht ebenso furchtbar wie
absurd klingt. Allgemein als Festung mit hunderttausenden Bunkern, staatlich verordnetem
Atheismus und besonders schlimmen Arbeitslagern, bevölkert mit zehntausenden politischer
Gefangener. Die kleine Lea ahnt nichts davon, um so größer ist ihre Erschütterung, als
sie nach dem Ende des Systems erfahren muss, wie alle Gewissheiten auf Lügen beruhten.
Vor allem seitens der Eltern der und der klugen Großmutter. Ein Leben voller Lügen, denn
die Wahrheit wäre viel zu gefährlich gewesen. Zum Beispiel über die Realität hinter
dem oft tagelangen Schlangestehen oder gar die wahre Familiengeschichte mit dem
großbürgerlichen Hintergrund. Da lernt das Mädchen die fatale Wirklichkeit der
Geheimsprache der Familie kennen, wo der Großvater nicht wirklich 15 Jahre lang auf der
Universität verschwunden sondern im Arbeitslager war. Wo ein Studienabbrecher
ei8n Ermordeter und ein strenger Professor ein Folterer war.
Der Erschütterung über das Lügengebäude aber folgte mit der neuen Freiheit die
nächste große Enttäuschung. Das unerfahrene Volk fällt den Haudegen des neuen
Kapitalismus zum Opfer, Korruption und Kleptokratie gipfeln durch ein landesweites
betrügerisches Schneeballsystem nicht nur im Chaos, dieses löst 1997 sogar einen
Bürgerkrieg aus.
Für Ypi bekamen die Segnungen des Westens einen bitteren Beigeschmack: Als die
Freiheit endlich kam, war sie ein tief gefroren serviertes Gericht. Wir kauten gierig,
schluckten hastig und wurden nicht satt. Dafür noch ärmer als ohnehin schon.
Nüchtern macht die Autorin deutlich, wie die Propaganda des einstigen Systems von den
Versprechungen des Westens abgelöst wurde die aber leer waren, denn zwischen den
propagierten Zielen und der harten Realität klafften eiskalte Lücken.
Diese Memoiren bestechen mit scharfsinnigen Reflexionen und lesen sich gleichwohl höchst
lebendig, denn diese Stimme könnte authentischer nicht sein. Unterlegt mit zuweilen
grimmigem Humor, entkleidet Lea Ypi die Geschichte des kleinen Landes auf dem Balkan
jeglicher Verklärung oder Heimattümelei. Vor allem aber geben diese Memoiren viel zum
Nachdenken über die Wahrheit und wie mit ihr in jeglichen Systemen umgegangen wird.
|