ABDULRAZAK GURNAH: „FERNE GESTADE“


2021 ging der Literaturnobelpreis recht überraschend an Abdulrazak Gurnah. Der im Sultanat Sansibar geborene Professor emeritus für Literatur an der University of Kent hatte bis dahin bereits zehn teils hochgelobte Romane verfasst.
Erst jetzt aber liegt nach jahrelanger Pause mit „Ferne Gestade“ eine zweite Neuveröffentlichung auf Deutsch vor. Die vor 20 Jahren entstandene Übersetzung wurde dabei durchgesehen und ein Glossar angehängt. Einmal mehr widmet sich der selbst einst ins englische Asyl geflüchtete Autor darin seinen zentralen Themen von Flucht aus ehemaligen Kolonien und dem Leben im Land der einstigen Herren und Ausbeuter.
Hier ist es zunächst Saleh Omar, der 1993 auf dem Flughafen London-Gatwick landet und um Asyl ersucht. Der Mittsechziger kommt mit einem falschen Namen in einem gefälschten Pass und gibt vor, des Englischen nicht mächtig zu sein. Beharrlich bleibt er dabei, weil er sich so eine einfachere Anerkennung erhofft.
Hilfe einer Flüchtlingshelferin lässt er auflaufen, allerdings beraubt ihn der Zoll des einzigen wertvollen aber verdächtigen Besitzes: einer Mahagonischachtel mit Weihrauch aus seiner Heimat Sansibar. Schließlich ziehen die Behörden einen Dolmetscher heran, der ebenfalls von dort kommt und Suaheli spricht.
Dieser Latif Mahmud lebt in London als Literaturprofessor, kam aber selbst als Flüchtling ins Land. Seine Flucht erfolgte in den 60er Jahren über die DDR. In dieses „Bruderland“ durfte der junge Araber damals als Student reisen, doch das nach der Unabhängigkeit in eine wüste Diktatur verfallene Sultanat mit seiner fanatischen Afrikanisierung trieb seine Familie in den Abgrund und ließ auch ihn um Leib und Leben fürchten.
Als Latif nun jedoch den falschen Namen des jetzigen Asylbewerbers hört, ist er elektrisiert: es ist der Name seine Vaters. Und dieser Alte kann nur der verhasste Möbelhändler sein, der seine Familie damals ruinierte. Doch was hat ihn so abstürzen und zum Flüchtling werden lassen? Der Alte war im jahrelangen bitterbösen Rechtsstreit mit den Mahmuds selbst derartig heruntergekommen, dass er seine Familie und sein Vermögen verlor und sogar auf Jahre ins Gefängnis musste.
Auch er also ein – wenn auch nicht ganz unschuldiges – Opfer jener chaotischen postkolonialen Verhältnisse, die nach dem Abzug der verhassten britischen Kolonialmacht. Nun an den neuen kalten Gestaden stehen sie sich gegenüber, enger miteinander verbunden, als sie ahnten. Und in ihren endlosen Gesprächen schält sich eine Vergangenheit heraus, die von Hass und Verrat, von Verführung und Besessenheit und von der Suche nach Sicherheit und Heimat geprägt war.
Die hohe Qualität dieses fesselnden Duells zweier intensiver Ich-Erzähler entfaltet sich im Puzzle aus den Erinnerungsstücken von zwei Menschen, die vom selben sprechen und dabei teils stark voneinander abweichen und so sichere geglaubte Gewissheiten ins Wanken bringen oder gar zerstören. Und diese schmerzliche Wahrheitssuche besticht mit schnörkelloser Klarheit.
Fazit: das komplexe Aufeinandertreffen zweier ungeahnter, schicksalhaft verknüpfter Lebensgeschichten offenbart ein Kleinod postkolonialer Literatur.

# Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade (aus dem Englischen von Thomas Brückner); 416 Seiten; Penguin Verlag, München; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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