JOSEPH HENRICH: „DIE SELTSAMSTEN MENSCHEN DER WELT“


Um die Mitte des zweiten Jahrtausends war festzustellen, dass sich die sogenannten „nördlichen Barbaren“ (im nördlichen Europa, im Gegensatz zu den südlichen in Afrika) offenbar für den die Welt erschütternden wirtschaftlichen Wandel prädestiniert waren, der sie zu Macht und Wohlstand führte.
Warum aber unterschieden sich die Länder in ihrer Prosperität und warum fand die Industrielle Revolution gerade in Europa und nicht anderswo statt? Diesen reizvollen Fragen widmet sich mit dem Kanadier Joseph Henrich einer der renommiertesten Anthropologen unserer Zeit. Heraus kam dabei ein provokantes Sachbuch mit dem Titel „Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde.“
Henrich, aktuell Professor des Departments of Human Evolutionary Biology der Harvard University, stellt dabei kühne Gedankengebäude auf. Wobei er den als „sonderbar“ übersetzten Begriff „weird“ als Akronym fasst für „Western, Educated, Industrial, Rich and Democartic“, also westlich, gebildet, industrialisiert, wohlhabend und demokratisch.
Diese „seltsamen“ Westler benehmen sich anders, als es Darwins Lehren erwarten lassen sollten. Aber: erfolgreich mit jahrhundertelang bewiesenem Durchsetzungsvermögen. Henrichs mit vielen Statistiken sowie historischen und soziologischen Daten angereicherte Beweisführungen verblüffen teils außerordentlich, wenn er zum Beispiel der römisch-katholischen Kirche eine grundlegende Rolle bei dieser Erfolgsgeschichte zuweist.
Das hat jedoch nichts mit einer überlegenen Glaubensrichtung zu tun, sondern mit religiös unterlegten Regeln, die die weltweit üblichen Familiengesellschaften aufbrachen. Ab etwa 1000 nach Christus kamen immer striktere Vorschriften auf, nach denen innerfamiliäre Eheschließungen untersagt wurden.
Diese Verbote der Cousinen-Ehen sorgten für massive Veränderungen in den Gesellschaften gegenüber den eher stammesmäßigen familieninternen Vermischungen in der übrigen Welt. Die Kirche habe so über Jahrhunderte die Psychologie der Europäer in eine andere Richtung gebracht und damit gesellschaftspolitische Entwicklungen wie Aufklärung und Demokratie angeschoben und die Industrielle Revolution damit überhaupt erst ermöglicht.
Henrich stellt verwegene und zumeist erstaunliche schlüssige Beweisführungen an, die die Weltgeschichte aus einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel beleuchten. Gleichwohl stößt seine Version der Menschheitsgeschichte auch auf Leerstellen von einiger Bedeutung, denn solch weltpolitisch gravierenden Aspekte für die Entwicklung wie der Rassismus, der Sklavenhandel und die Klima- bzw. Umweltprobleme lässt der Wissenschaftler schlicht beiseite.
Fazit: eine gewaltige und höchst aufschlussreiche Analyse, die sich sehr flüssig lesen lässt. Aber auch trefflich zum Streiten herausfordert...

# Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde (aus dem Englischen von Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser); 918 Seiten, div. SW-Abb.; Suhrkamp Verlag, Berlin; € 34

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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