JUDITH W. TASCHLER: ÜBER
CARL REDEN WIR MORGEN
Einen Heimatroman hat die preisgekrönte österreichische Autorin Judith W. Taschler mit
ihrem neuen Werk Über Carl reden wir morgen vorgelegt. Aber was für einen,
der breitet über drei Generationen entlang der Chronik der späten k. u. k. Monarchie ein
grandioses Füllhorn an Geschichten und Verflechtungen aus.
Der Reigen setzt 1828 im Dorf Putzleinsdorf ein in der tiefsten Provinz des Mühlviertels,
arm, rückständig und sehr katholisch geprägt. Hier plagt sich der Jungmüller Anton
Brugger auf der Hofmühle. Als König im Dorf spielt sich der tyrannische Großbauer
Johann Eder auf, der auch später noch für viel Verdruss sorgt.
Antons Schwester Rosa, noch keine 18, erliegt den Verlockungen einer Anwerberin aus Wien.
Die sucht unbescholtene hübsche Zimmermädchen für dortige Herrschaften. Für das hart
auf der Mühle mitarbeitende Mädchen eröffnet sich die Chance, aus der dumpfen Enge
ihrer Heimat herauszukommen.
Gegen den Willen des Vaters und des tief gekränkten Bruders geht sie fort. Ihr
Dienstgeber ist Karl Freiherr von Reischach, ein Fabrikant, der in einem Palais mit
36-köpfigem Dienstpersonal wohnt. Im Haus lebt auch der Familienspross Theodor Johann, 21
Jahre alt. Der Rosa so erfolgreich nachstellt, dass diese im Mai 1830 den gemeinsamen Sohn
Theodor zur Welt bringt.
Rosas Hoffnungen auf einen gewissen Aufstieg im Hause Reischach aber werden bitter
enttäuscht, als sie die Wahrheit über ihre Rekrutierung erfährt. Der junge Freiherr
leidet unter Fallsucht und mit Rosa sollte er testen, ob er gesunde Kinder zeugen kann. Da
muss sie sogar noch froh sein, dass er so an ihr hängt, dass er sie und den Jungen
überdurchschnittlich generös unterstützt und der Knabe sogar zum Gymnasium darf.
Doch dieser Roman hat ja weit mehr als diese eine Ebene. So enttäuscht Antons Sohn den
Hofmüller, als er zwar das Handwerk erlernt, dann aber die Gelegenheit zum Ausstieg
nutzt, als 1868 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wird. Für zwölf Jahre
verpflichtet er sich zur Marine und Anton ist schließlich gezwungen, einen seiner
Schwiegersöhne als Nachfolger einzusetzen.
Rosa ist derweil nach 20 Jahren, verbittert aber auch zu einer starken Frau geworden, auf
die Hofmühle heimgekehrt und sorgt mit Tatkraft und ihren Ersparnissen für einen
Aufschwung des Betriebs. Wie auch das gesamte Reich unter dem neuen Kaiser Franz Joseph I.
deutliche Fortschritte macht.
Als Albert Theodor nach dem Militärdienst zurückkommt, wird er der neue Herr auf der
Hofmühle. Zudem gründet er mit Erfolg eine Handelsgesellschaft und geht auf Brautschau.
Die nun einmal mehr nach Wien führt, nachdem eine erste Favoritin für einen Eklat mit
Folgen sorgt. Ausgerechnet mit Eder-Tochter Franziska scheint er anzubändeln. Als er das
wegen ihrer Frömmelei schnell wieder aufgibt, eskaliert die Dauerfeindschaft mit Johann
Eder.
Zumal Albert Theodor dann aus Wien die verwöhnte und sehr städtische Fabrikantentochter
Anna heimführt und heiratet. Sie leidet jedoch an der immer noch tiefen Provinz und erst
viel später erfährt ihr Ehemann, dass sie einen sehr heiklen Grund hatte, Wien den
Rücken zu kehren. Immerhin bekommt sie bald die Zwillinge Carl und Eugen und später zwei
weitere Kinder.
Die Ereignisse und Umbrüche aber erfolgen ungleich komplexer und mitreißender, als diese
bruchstückhaften Darstellungen auch nur andeuten können. Da wandert ein Sohn aus und
breitet eine ganze Geschichte über USA-Emigranten aus Habsburger Landen aus. Und
schließlich sorgt ab 1914 der Erste Weltkrieg für viel Leid, unbarmherzig authentisch
aus dem Entstehen der Isonzo-Schlachten gegen Italien geschildert.
Sämtliche Charaktere überzeugen, allen voran Rosa und Anna als zwei starke Frauen, die
jede für sich eine fesselnde Entwicklung durchmachen. Der gesamte Roman fasziniert mit
seiner Fülle an schicksalhaften Verstrickungen und folgenschweren Jugendsünden und
gewinnt doch erst durch das grandiose Zeit- und Lokalkolorit seine wahre Größe. Wozu
interessant zu wissen ist, dass die Autorin selbst im Mühlviertel aufwuchs.
Fazit: mit Über Carl reden wir morgen steht Judith W. Taschler in der
Tradition eines Joseph Roth und dessen großen Werken aus der späten k.u.k.-Epoche und
auch literarisch darf man ihr für diesen weitgespannten und dicht erzählten
Mehrgenerationenroman getrost ähnliche Qualitäten bescheinigen.
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