ANDREA SAWATZKI:
BRUNNENSTRAßE
Die Schauspielerin Andrea Sawatzki hat ihre schriftstellerischen Qualitäten mit etlichen
Romanen und Drehbüchern längst unter Beweis gestellt. Ihr jüngstes Werk ist allerdings
etwas Besonderes, vor allem aber ist es entgegen der offiziellen Bezeichnung kein Roman.
Brunnenstraße ist die Geschichte ihrer eigenen Kindheit und Jugend und was
hier geschildert wird, ist ganz und gar autobiografisch mit den realen Protagonisten unter
ihrem echten Namen. Doch war diese Kindheit teilweise so unglücklich, dass die Autorin
etliche Schreibversuche abbrechen musste. Bis ihr der Ansatz, die Ich-Erzählerin als
fiktive Person wie über eine Fremde zu berichten, über diese Hemmschwelle half.
Ich teile meine Kindheit in zwei Leben auf. Wobei die ersten acht Jahrfe viele
gute, ja sogar glücklich Zeiten umfassen. Ihre Mutter hatte sich in einen verheirateten
Mann verliebt, zu dieser Zeit Chefredakteur einer großen Tageszeitung. Ein stattlicher
charmanter Mann, allerdings 25 Jahre älter als die 30-jährige Krankenschwester. Als die
1962 schwanger wird, unterließ sie sie angestrebte Abtreibung nur auf seine Drängen hin.
Da er sich nicht scheiden lassen konnte oder wollte, zog sie das 1963 geborene Mädchen
allein auf. Vor allem die fünf Jahre, in denen sich hauptsächlich die Familie Sonntag
rührend um die Kleine kümmerte, bezeichnet die Ich-Erzählerin als die schönsten ihres
Lebens. Was sie nicht wusste, war, dass der selten erscheinende und daher fast unbekannte
Vater inzwischen nicht nur seinen lukrativen Job aufgegeben hatte, um als freier
Journalist und Drehbuchautor sein Glück zu versuchen.
Er blieb dabei eher glücklos und ein schwerer Unfall warf ihn noch weiter zurück. Doch
ausgerechnet in dieser Phase begeht seine Frau Selbstmord und Andreas noch immer zutiefst
in ihn verliebte Mutter lässt sich auf sein Angebot ein, ihn nun zu heiraten. Die jetzt
achtjährige Ich-Erzählerin war bis dahin bestens mit ihrer Mutter ausgekommen und hatte
den Vater nie vermisst.
Der Wechsel zur Bildung einer richtigen Familie wird zutiefst unerfreulich und prägend
für das weitere Leben, denn schon der Einstieg hätte schlechte nicht sein können. Der
Vater sollte seine Tochter von Verwandten abholen zur Hochzeit. Da sie vor Aufregung
jedoch starke Bauchschmerzen hatte und jammerte, nimmt er sie einfach nicht mit.
Auch die Idee, mit der neuen Familie in der Wohnung aus erster Ehe zu bleiben in
der titelgebenden Brunnenstraße erweist sich als wenig zielführend. Zumal es
immer mehr abwärts geht mit ihm. Zur Arbeitslosigkeit kommen bald nich verheimlichte
Schulden, so dass die Mutter entgegen ursprünglichen Ankündigungen wieder arbeiten gehen
muss.
Für das Mädchen erwächst sich das sowieso schon lieblose Miteinander zu einem
regelrechten Martyrium, nachdem schon ihre vorsichtige kindliche Annäherung an den
fremden Vater auf so wenig Gegenliebe stieß: Was verbarg sich hinter der Fassade
dieses alten Mannes? Immer weiter geht es bergab, denn der erkrankte an Alzheimer
und wurde zunehmend erratischer und schwieriger.
Und die Tochter war diejenige, die seinen Verfall und sein Siechtum am intensivsten
mitsamt seinen aggressiven Aufwallungen ertragen muss. Schließlich muss sie als junger
Teenager sogar quasi die Pflege übernehmen. Sie ist 15, als der Alptraum mit seinem Tod
endet. Wenn dieser reale Roman bei all dem geschilderten Leid dennoch nicht in Larmoyanz
und Selbstmitleid ertrinkt, so liegt das an der Meisterschaft Sawatzkis, dass sie dies
Alles schnörkellos als Berichterstatterin einer teils äußerst freudlosen Kindheit
niedergeschrieben hat.
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