JOACHIM B. SCHMIDT: „TELL“


Wer kennt ihn nicht, den Schweizer Nationalmythos des Wilhelm Tell. Insbesondere in der Heldengestalt des Widerstandskämpfers gegen die Habsburger Landvögte, die Friedrich Schiller mit seinem Drama 1804 unsterblich gemacht hat.
Diesen Tell und seinen legendären Apfelschuss aus dem Jahr 1307 hat nun der auf Island lebende Schweizer Erfolgsautor Joachim B. Schmiddt in seinem schlicht „Tell“ betitelten neuen Roman in gänzlich andere Dimensionen gestellt. Und es sei schon vorweg gesagt: ungleich glaubwürdiger.
Dieser knorrige wortkarge Bergbauer gilt als Dickschädel, der nicht nur seinen Erstgeborenen Walter grob behandelt und keinerlei Gefühlsregungen zu haben scheint. Doch tief drinnen leidet er unter Schuldgefühlen wegen des Todes seines jüngeren Bruders durch einen Absturz bei einer winterlichen Jagd in den Bergen.
Nun hat er dessen schwangere Frau geheiratet und lebt mit ihr, den anderen Kindern sowie Mutter und Schwiegermutter in ärmlichen Verhältnissen. Die er mit Wilderei aufzubessern versucht. Doch diesem schon seit Kindertagen vom Schicksal übel verfolgten Querulanten rücken nach einer fatalen Begegnung in den Bergen mit dem neuen Landvogt Gessler und dessen Adjutanten Harras dessen Schergen auf dem Hof.
Dieser Landvogt, von dem der bärbeißige Harras sagt, dass er ein feiger Leisetreter sei, hasst das feindselige „Bauernpack“ und sehnt sich zurück in seine kultivierte Habsburger-Welt. Und das ist die besondere Stärke dieses Romans, wie er in 100 Episoden rund 20 der Protagonisten als Ich-Erzähler agieren lässt, die das Geschehen damit atmosphärisch dicht vorantreiben.
Wie diese Schergen nun auf dem Tell-Hof wüten, die Mutter derartig malträtieren, dass sie stirbt, und dem Tell auch noch die Vorräte konfiszieren, das ist hochdramatisch. Zugleich ist Tell nun gezwungen, eine Kuh ins Dorf zu treiben, um sie zu verkaufen. Und dabei begeht er ahnungslos den nächsten strafwürdigen Fehltritt: in völliger Unkenntnis versäumt er es, den Hut zu grüßen, der als Symbol der kaiserlichen Herrschaft an einer Stange hängt.
Harras frohlockt und der Landvogt – obwohl ihm das zuwider ist – muss eine Strafe verhängen. Hier nun kommt der zynische Befehl, vor aller Augen seinem Sohn mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf zu schießen. Wie ihm das gelingt und er trotzdem gefangen genommen wird, freikommt und dann den Tyrannenmord in der legendären Hohlen Gasse begeht – das folgt weitgehend dem Urmythos, der noch heute in der Schweiz hochgehalten wird.
Dieser Wilhelm Tell allerdings ist eher ein grantiger Antiheld und seine historische Tat der Wut und der Verzweiflung entsprungen. Das macht die Legende aber um so realistischerer, zumal sämtliche Charaktere wie auch die bildhaften Details ausgesprochen authentisch wirken. Da passen die grobkörnigen und doch so genauen Dialoge und die knappen Perspektivwechsel sorgen für ein explosives, mitreißendes Lesevergnügen.
Fazit: diese so andere frische Tell-Geschichte ist ein literarisches Ereignis und obendrein absolut filmreif.

# Joachim B. Schmidt: Tell; 281 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 23

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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