ANTHONY DOERR: „WOLKENKUCKUCKSLAND“


Eine Stadt in den Wolken, wo Frieden herrscht und alles gut ist, davon sprach der griechische Dichter Aristophanes im Jahr 414 vor Christus in seiner berühmten Komödie „Die Vögel“ und er nannte sie „Wolkenkuckucksland“. Für den US-Erfolgsautor Anthony Doerr war sie die Inspiration für seinen neuen, gleichnamigen Roman.
Er aber macht daraus ein Romanfragment des fiktiven antiken Dichters Antonios Diogenes, das in 24 teils arg ramponierten Tafeln überliefert ist. Darin erzählt der alte Grieche vom Schafhirten Aethon, der sich diesem von Vögeln bevölkerten Paradies sehnt. Um dort hinzugelangen, müsste man sich allerdings zunächst in einen Vogel verwandeln, denn Menschen sind dort als zerstörerische Wesen verbannt.
Diese Fabel ist jedoch nur ein immer wieder wichtiges Band, das ganz andere Geschichten aus verschiedenen Zeitebenen verknüpft – und auch das offenbart sich erst nach einem allmählichen Hineinlesen in eine wahre Wundertüte von Epos. Das beginnt mit Konstance, die im Jahr 2146 auf dem interstellaren Raumschiff „Argon“ unterwegs ist, das seit 65 Jahren einen Exo-Planeten sucht, nachdem die Erde ruiniert ist.
Wenn das Mädchen von Alpträumen geplagt wird, erzählt ihr Vater ihr von der so unglaublichen uralten Fabel. Doch auch sie selbst forscht nach dem Wolkenkuckucksland in dem unerschöpflichen Wissen der gottähnlichen KI Sybil, die das Raumschiff beherrscht. Der Gegenpol dazu spielt im 15. Jahrhundert in der byzantinischen Metropole Konstantinopel, deren Eroberung durch die Osmanen kurz bevorsteht.
Hier stößt das achtjährige Waisenkind Anna auf die Idee von der utopischen Stadt und das bringt sie dazu, dass sie heimlich das Lesen erlernt. Mit ihr kommt auch der junge Ochsenführer Orein ins Spiel. Mit einer Hasenscharte geboren, halten ihn seine abergläubischen Zeitgenossen für ein böses Omen, tatsächlich aber wird er 1453 noch zum Helden. Weniger heldenhaft entwickelt sich dagegen das Leben von Zenon Nini im amerikanischen Lakeport.
Nachdem er den Vater im Krieg verloren hat, meldet er sich selbst 1952 als Freiwilliger für den Korea-Krieg. Und geärt prompt in eine mörderische Kriegsgefangenschaft. Während der elenden Hungermonate lernt er von einem Mitgefangenen Altgriechisch und viel später übersetzt er die Fragmente von Aethons Geschichte.
Womit ein weiterer Sprung verbunden ist – wobei die Zeiten und Orte aber ohnehin immer wieder und zumeist mit veritablen Cliffhängern wechseln – denn nun geht es in die Gegenwart. Der betagte Zenon studiert mit Schülern „Wolkenkuckucksland“ als Theaterstück ein. Probenort ist ein kleiner Saal über der städtischen Bibliothek von Lakeport.
Und hier wie auch auf der „Argos“, dem Raumschiff der Erdenflüchtlinge, tun zwei Jugendliche schier Unbegreifliches. Während das Mädchen Konstance sich gewaltsam einen Weg aus dem Schutz der „Argos“ in den vermeintlichen Tod bahnt, ist der 15-jährige Seymour in die Bücherei eingedrungen. Der verschrobene Ökoterrorist hat eine Pistole und eine Bombe in seinem Rucksack und er wartet auf das auslösende Handysignal.
Alles klar?! Eigentlich eröffnet sich hier eine recht einfache Geschichte auf drei Ebenen, die sich zuweilen der Logik und der Kontinuität zu verweigern scheint. Und doch findet alles seinen Weg, denn dieser Roman erweist sich als komplexes Puzzle, wo jede Sequenz ihren Platz findet. Meisterhaft komponiert, fabuliert Anthony Doerr wie im Rausch drauf los und zieht den Leser immer unentrinnbarer in seinen Bann.
Fazit: ein irrer Roman, doch wer sich darauf einlässt, erlebt ein rauschendes literarisches Fest.

# Anthony Doerr: Wolkenkuckucksland (aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence); 530 Seiten; C. H. Beck Verlag, München; € 25

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) 

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