MEGHA MAJUMDAR: „IN FLAMMEN“


Jivan ist 21 und hat es mit Ehrgeiz bis zur Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft gebracht, obwohl sie mit ihren Eltern in den Slums einer indischen Großstadt lebt. Besonders stolz ist sie auf ihr eigenen Geld und das einfache Smartphone, das sie sich deshalb auf Raten kaufen konnte. Und das ihr ein schlimmes Schicksal bescheren wird.
Mit einem Fanal eröffnet die in den USA lebende indische Autorin Megha Majumdar ihren Roman „In Flammen“, wenn sie ihre Ich-Erzählerin nun ins Unglück laufen lässt. Auf dem Weg zum Englisch-Nachhilfeunterricht für eine junge Frau, die um jeden Preis Karriere im legendären Bollywood machen will, wird Jivan Augenzeugin eines entsetzlichen Terroranschlags.
Im Vorstadtbahnhof schleudern Attentäter Brandfackeln in einen Personenzug und in dem Flammeninferno kommen 112 Menschen um. Natürlich kochen bei so etwas auch im modernen Indien sofort die sozialen Medien hoch und auch Jivan mischt sich mit Kommentaren auf Facebook ein. Enttäuscht über die ausbleibende Resonanz auf ihre Posts, kritisiert sie das von ihr beobachtete Untätigbleiben der Sicherheitskräfte.
„Wenn die Polizei normalen Leuten wie dir und mir nicht geholfen hat, wenn die Polizei mit angesehen hat, wie sie starben, heißt das dann nicht, dass die Regierung auch ein Terrorist ist?“ Noch in derselben Nacht
stürmt die Polizei die Elendshütte und verhaftet Jivan. In Ihrer völligen Naivität hat sie offenbar auch noch uniwssentlich Webkontakte zu einem angeblichen Terror-Anwerber gehabt.
Nach schweren Prügeln beim Verhör unterschreibt sie ein Geständnis und noch viel mehr spricht gegen sie: im noch immer misogynen Indien hat jede Frau, die erst einmal hinter Gittern sitzt, ganz wenig Aussicht auf juristische Fairness. Um so weniger eine Muslima wie Jivan, zumal die Regierung die Gemüter mit einer schnellen Aufklärung des Anschlags beruhigen will.
Die Medien schaukeln des Fall zusätzlich hoch und Jivans Hoffnung, die sie in das Interview mit einem Sensationsreporter setzt, bewirkt das genaue Gegenteil. Die abstrusesten Meldungen über sie finden Gehör und der beginnenden Wahlkampf verschärft ihre Lage noch um ein Vielfaches. Dabei gäbe es gleich zwei Menschen, die sie durch ihre Aussagen vor dem Schlimmsten retten könnten, als dann nach einem Jahr elendiger Untersuchungshaft endlich der Prozess losgeht.
In dramaturgisch exzellent gelungenen Wechseln hat der Leser sie bereits kennengelernt: Jivans ehemaliger Sportlehrer PT Sir und Lovely, der sie für ihre Schauspielkarriere das Englishc aufbessern sollte. Sie ist eine Hijra, die sich erst mit 13 dafür entschied, nicht mehr als Junge sondern als Frau leben zu wollen. Tatsächlich macht sie vor Gericht günstige Aussagen, aber – ihr Auftritt sorgt für Furore im Internet und befördert ihre Chancen auf eine Filmrolle in Bollywood ganz ungemein.
Dass Lovely ihre einmalige kleine Chance nicht durch unerwünschte Aussagen in der aufgeladenen Stimmung gefährden will, lieget dann ebenso im Bereich des Erwartbaren wie bei PT Sir. Er war seinerzeit ohnehin etwas verschnupft, dass die so sportliche Jivan seine Avancen zu einer besonderen Förderung ins Leere laufen ließ. Gerade er aber steht nun vor der Chance seines Lebens, als er in die aufgeheizte Wahlkampfkundgebung der Jana-Kalyan-Partei stolpert.
Eigentlich eher unbedarft, wird er durch die Chefin der radikalen Nationalistenpartei im Nu so einbezogen und mit plötzlichen Privilegien überhäuft, dass er sich deren Treiben voll andient. In einem besonders barbarischen Zwischenspiel unter der heimtückischen Kapitelüberschrift „Die Dorfbewohner besuchen den Rindfleischesser“ gehört PT Sir zu den Mitverantwortlichen für einen Lanchmord an einer muslimischen Familie.
Trotzdem steigt er nicht in der Partei weiter auf, nach dem Todesurteil gegen Jivan ist er nun sogar derjenige, der ihr Gnadengesuch als letzten Hoffnungsfunken unterdrückt. Für ihn gilt wie für Lovely in der gesellschaftlich wie religiös zerrissenen und von extremen wirtschaftlichen Unterschieden geprägten Großmacht: Erfolg und Aufstieg stehen nur den Skrupellosen zu.
Man muss davon ausgehen, dass dieses gnadenlos entlarvende Meisterwerk sehr authentisch ist – und gerade deshalb zuweilen nur schwer zu ertragen.

# Megha Majumdar: In Flammen (aus dem Englischen von Yvonne Eglinger); 331 Seiten; Piper Verlag, München; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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