WASSILI GROSSMAN: „STALINGRAD“


Wassili Grossman (1905-1964) war zunächst ein anerkannter systemtreuer Schriftsteller in der Sowjetunion. Im Zweiten Weltkrieg wurde er zum hoch dekorierten Kriegsberichterstatter und vor allem seine Meldungen aus dem fünfmonatigen Ringen um Stalingrad machten ihn berühmt.
Aus seinen Eindrücken schuf er bereits ab 1943 den großen Roman über diese kriegsentscheidende Schlacht, dessen erster Teil 1952 noch zu Stalins Zeiten erschien. Vielfach zensiert und abgeändert, gab es erst 1956 eine „entstalinisierte“ Fassung, die ab 1958 auch auf Deutsch in der DDR erfolgreich war. Im Westen aber blieb „Stalingrad“ ignoriert – eben weil er erscheinen durfte und damit als linientreu galt.
Der zweite Teil unter dem Titel „Leben und Schicksal“ dagegen war frei von diesem Makel, denn er blieb verboten und gelangte erst als aus dem Sowjetreich geschmuggeltes Manuskript in die Öffentlichkeit. Und wurde als Pendant zu Tolstois „Krieg und Frieden“ umjubelt. Erst jetzt wurde endlich aus verschiedenen Fassungen und gestrichenen Passagen eine neue Version des ersten Teils geschaffen, die Grossman ursprünglicher Idee des Romans am nächsten kommen dürfte, wie Jochen Hellbeck in einem ausführlichen Vorwort darlegt.
Zweierlei darf als gesichert gelten: „Stalingrad“, so der schlichte Titel, hat die Qualitäten eines tolstoischen Historienromans. Und hier werden in epischer Ausbreitung nicht nur die Monate seit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion bis hin zur Eroberung der Wolga-Metropole mit dem symbolträchtigen Namen geschildert. Auch viele wichtige Protagonisten des zweiten Teils spielen gewichtige Rollen und erhalten nun die Tiefenschärfe, die manche Kritiker bisher vermissten.
Der Roman setzt am 29. April 1942 in Salzburg mit dem Treffen zwischen Hitler und Mussolini ein. Die Wehrmacht hat halb Europa erobert und scheint unbesiegbar und der Führer plant den endgültigen großen Schlag gegen den Südosten der UdSSR. Dann geht der Fokus auf die sowjetische Gegenwart in einem gedemütigten Land. Da kann man sich trotzdem in der vielköpfigen Familie Schaposchnikow eine direkte Bedrohung hier an der Wolga kaum vorstellen.
Die militärische Lage, die politische Situation, private Schicksale auch anderer Protagonisten und wie der Vormarsch der deutschen Truppen die Stimmung verändert – all das wird sehr persönlich, sehr nah an den Menschen beschrieben. Es galt als Meisterschaft Grossmans, jede Nuance vom Zivilisten bis zum Kommissar, vom einfachen Soldaten bis zum General lebensnah einzufangen.
In akribisch dokumentarischer Manier faszinieren die rund 700 Seiten, bis die Schlacht überhaupt am 23. August 1942 mit infernalischen Luftangriffen losbricht. Und der Autor hat auf fundierter Grundlage einige entlarvende Schilderungen aus dem deutschen Lager eingefügt. Da treffen sich Hitler und Himmler zu einem psychologisch ausgeklügelten Gespräch und an anderer Stelle erfolgt eine bestechende Deutung der Denkweise des „böhmischen Psychopathen“.
Dann folgen die – vom Autor ja wirklich so hautnah erlebten – ersten Wochen der blutigsten Schlacht der Weltgeschichte. Das geht mit den ebenso gnadenlosen wie einzigartigen Schilderungen tief unter die Haut. Und offenbart eine besondere Galligkeit, wenn Grossman auch ins Lager der Aggressoren blickt und einen blonden blauäugigen SS-Offizier schwadronieren lässt: „Wir haben nicht nur die Bolschewisten und den russischen Raum besiegt – wir haben uns selbst von der Ohnmacht des Humanismus befreit.“
Man spürt zum Schluss des Romans, der bis zum vermeintlichen Sieg der Angreifer reicht, die noch nichts von der lauernden großen Gegenoffensive ahnen, dass dies die eine Hälfte des großen Stalingrad-Epos sein sollte. Natürlich klingen Pathos und Patriotismus deutlich durch – schließlich war dies das entscheidende Fanal im „Vaterländischen Krieg“ und sie waren die Verteidiger ihrer Heimat.
Fazit: der Vergleich in Größe und Umfang mit Tolstois „Krieg und Frieden“ ist gerechtfertigt und die hervorragende Übersetzung trägt das Ihrige dazu bei.

# Wassili Grossman: Stalingrad (aus dem Russischen von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe); 1275 Seiten mit einem Vorwort von Jochen Hellbeck und einem Nachwort von Robert Chandler; Claassen Verlag, Berlin; € 35

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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