ANDREAS KILCHER (Hrsg.): „FRANZ KAFKA. DIE ZEICHNUNGEN“


„Du, ich war mal ein großer Zeichner. Jene Zeichnungen haben mich zu seiner Zeit, es ist schon Jahre her, mehr befriedigt, als irgendetwas.“ Über eine solchen Satz, den Franz Kafka (1883-1924) etwa um 1913 an seine damalige Verlobte Felice Bauer schrieb, hat sich so mancher gewundert, denn was man von dem Ausnahmeschriftsteller an Zeichnungen kannte, war eine nicht sonderlich bemerkenswerte Hinterlassenschaft von rund 40 Arbeiten.
Verständlich deshalb, dass insbesondere Kafka-Kenner von einem Sensationsfund sprachen, als nach einem langjährigen Rechtsstreit der Safe einer Schweizer Bank geöffnet werden durfte und man einen ungeahnten Schatz an bildnerischer Kunst vorfand: über 100 Zeichnungen, viele davon in einem ganzem Zeichenheft zusammengefasst.
Nun liegt dieser Schatz in Buchform unter dem Titel „Franz Kafka. Die Zeichnungen“ vor, herausgegeben von Andreas Kilcher, Züricher Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft. Der opulente Bildband umfasst nun sämtliche überlieferten Zeichnungen, chronologisch geordnet und überwiegend 1:1 wiedergegeben.
Es sei dies „die letzte große Unbekannte von Kafkas Schaffen gewesen“, betont Kilcher in seinen Erläuterungen. Zumeist sind es skurrile bis groteske Figuren, eher traumhaft als real. Wie von Max Brod, enger Freund Kafkas, bekannt, hat der später weltberühmte Schriftsteller zwischen 1901 und 1907 sich während des Studiums auch intensiv mit der bildenden Kunst beschäftigt.
Doch die entstandenen Bilder dienten nicht zur Illustration der späteren Schriften. Was beim Zeichenheft am offensichtlichsten wird, denn alles darin Enthaltene war textunabhängig und für sich stehend. Die Zeit als „großer Zeichner“ nahm Kafka schon bald selbst nicht mehr ernst, als er um 1910 zum Autor wurde. Um so glücklicher ist der Umstand, dass er das zeichnerische Werk dennoch nicht vernichtete.
Und noch mehr muss die Nachwelt Max Brod dankbar sein, dass er Kafka einen gewichtigen Freundschaftsdienst entgegen dessen ausdrücklichem Wunsch nicht erfüllte: wie die literarische Hinterlassenschaft vernichtete er auch die gezeichnete nicht. Diese vermachte er später seiner Sekretärin und Vertrauten Ilse Ester Hoffe.
Dass es zwischen deren Erben und der israelischen Nationalbibliothek als Haupterbin von Kafkas Werk dann einen jahrelangen Rechtsstreit gab, hat glücklicherweise lediglich für eine Verzögerung gesorgt, bis nun dieser spektakuläre Bildband mit Kafkas sämtlichen überlieferten rund 150 Zeichnungen erscheinen konnte. Es mag Franz Kafkas Bedeutung nicht maßgeblich verändern, eine interessante und wichtige Nuance ist es allemal.

# Andreas Kilcher (Hrsg.): Franz Kafka. Die Zeichnungen; 368 Seiten, 229 Abb., Großformat; C. H. Beck Verlag, München; € 45

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) 

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