LYDIA SANDGREN: GESAMMELTE
WERKE
Martin Berg steht kurz vor seinem 50. Geburtstag, als er an einem heißen Sonntag auf dem
Speicher seines Hauses in Göteborg seine unzähligen unvollendeten Werke um sich
verstreut. So vieles hat er geschrieben, aber nichts davon veröffentlicht, während er
als Verleger doch bereits das 25-Jährige feiert.
Anderes schmerzt jedoch weitaus mehr, denn vor 15 Jahren verschwand Jugendliebe und
Ehefrau Cecilia über Nacht spurlos, und selbst der Kontakt mit dem engen Freund seit
Jugendtagen, dem berühmten Maler Gustav Becker, ist gewissermaßen versandet. Wird
man verlassen, spaltet sich das Leben in ein Davor und ein Danach. Das Davor hat ein Ende,
das Danach währt ewig.
Und von diesen Zeiten eines Lebens davor und danach erzählt die schwedische Psychologin
Lydia Sandgren in ihrem daheim bereits preisgekrönten Debütroman Gesammelte
Werke. Zehn Jahre hat sie daran gearbeitet und man spürt die Akribie, mit der sie
dieses einzigartige Konstrukt zu einem wahrhaft überwältigenden Leseereignis geformt
hat.
Ein breiter Erzählstrom fesselt trotz hoher Detailfreudigkeit mit dramaturgisch
geschickten Wechseln zwischen den Lebensphasen und den Protagonisten. Da schwelgt Martin
in Erinnerungen über die wilden Studentenjahre in Göteborg und vor allem auch in Paris
und Gustav immer an seiner Seite, die jedoch zugleich stets den Trennungsschmerz von
Cecilia in sich tragen.
Zu dritt hatten sie einen berauschenden Sommer an der Côte d'Azur genossen und längst
war die schöne Cecilia zur Muse des exzentrischen Gustav geworden. Der aber auch
miterlebt, wie sich Martin in den Pariser Zeiten trotz aller Liebe zur wieder in Schweden
studierenden Cecilia auch anderweitig vergnügt. Später werden die Beiden gleichwohl ein
Ehepaar, das erst die Tochter Rakel im selben Jahr bekommt, in dem Martin mit Freund Per
einen Verlag gründet, und sieben Jahre danach folgt Sohn Elis.
Der aber ist gerade zwei Jahre alt und Cecilia hat eben glanzvoll promoviert, als sie
plötzlich verschwindet. Mit einer knappen schriftlichen Trennungsmitteilung und ohne jede
weitere Spur. Eine erste entdeckt dann viele Jahre später Rakel auf einem
Ausstellungsplakat für eine große Retrospektive des mittlerweile gefeierten Gustav:
unweigerlich muss das ihre Mutter auf dem einen Bildausschnitt sein.
Doch Rakel gerät auf noch eine andere Spur ihrer Mutter, diesmal auf einem Umweg, wie ihn
nur das wahre Leben als Laune der Götter zuweilen macht. Ihrem Vater wird Philip Frankes
deutscher Erfolgsroman Ein Jahr der Liebe zur Herausgabe auf Schwedisch
empfohlen. Weil Rakel ihr Psychologiestudium in Berlin absolvierte wo sie im
Übrigen auch Gustav begegnete soll sie den Roman lesen und begutachten.
Je mehr sie davon liest, desto zwingender wird der Gedanke, dass es ihre Mutter sein muss,
die der Autor da so hingebungsvoll und womöglich sogar autobiografisch beschreibt. Und
vermutlich hat die Mutter sogar zur selben Zeit in Berlin gelebt, als Rakel dort studiert
hat. Nun werden Dinge in Bewegung gesetzt, einerseits erliegt der exzentrische Gustav mit
kaum 50 seinem Bohème-Leben, andererseits forschen Cecilias Kinder nicht nur nach Philip
Franke.
Mehr aber sei von von diesem einzigartigen Reigen nicht verraten. Der sich ohnehin viel
raffinierter, verschlungener und zugleich realer ausbreitet, als hier beschrieben. Die
Charaktere sind exzellent gezeichnet und einige stilistische Feinheiten wie eingeschobene
Interviews mit dem leidenschaftlichen Verleger Martin krönen diesen Lebensroman. Der ist
weder schnell noch spektakulär und entwickelt samt seiner durchgehenden Hingabe an
Literatur, Kunst und Kultur dennoch von Beginn an eine große Sogwirkung.
Fazit: ein Roman mit 874 Seiten und gleichwohl bedauert man auf der letzten Seite, dass
dieses wunderbare literarische Fest zu ende ist.
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