CHRISTINA SWEENEY-BAIRD: „DIE ANDERE HÄLFTE DER WELT“


Tag 1 ist der 3. November 2025: um 8:39 Uhr wird Euan Fraser in der Notfallaufnahme des Glasgower Krankenhauses eingeliefert mit leicht erhöhter Temperatur, Lethargie und Kopfschmerzen. Um 11:37 kann Oberärztin Amanda Maclean nach heftigem Fieberschub und Organversagen nur noch den Tod fetstellen.
Nach einem geradezu banalen Auftakt mit dem Grübeln einer Londoner upper-class Mutti Catherine über das Halloween-Kostüm für ihr Söhnchen wird es gleich im zweiten Kapitel ernst. Ärztin Amanda schildert nüchtern wenn auch mit rasant steigendem Unbehagen, was für ein rätselhaftes Krankheitsbild sich hier auftut und noch am selben Tag fünf weitere Patienten hinwegrafft.
Alle sind männlich, zwischen zwei Monate und 62 Jahre alt, und das ist die Geschichte, die Christina Sweeney-Baird in ihrem Debütroman „Die andere Hälfte der Welt“ ausbreitet. Die einer Pandemie, gegen die Covid 19 wie eine stärkere Grippe wirkt. Ich-Erzählerin Amanda ahnt die Gefahr, die in diesem bösartigen Virus liegt, gegen den nichts hilft und der innerhalb von zwei tagen zum Ausbruch kommt.
Frauen sind asymptomatische Überträger, doch nur Männer erkranken und die Opferzahlen steigen in ganz Schottland. Amandas Appelle aber werden von den Gesundheitsbehörden als wirres Zeug abgeschmettert und bei der WHO schlicht ignoriert. Immer schneller dreht sich die Spirale jedoch und es kommen weitere Ich-Erzählerinnen zu Worte, jeweils mit Angabe des Namens und des Tages der Seuche.
Aus Sorge wird Angst und Panik und natürlich geht das Virus über Grenzen. Da titelt dann am 20. November die „Washington Post“ die Feststellung Amandas: „Das ist die neue Pest“ und an Tag 37 ist die Opferzahl auf 100.000 gestiegen. Die Dramaturgie wechselt wie in einem hochspannenden Doku-Drama zwischen den Akteuren und Schauplätzen, von Wissenschaftsgremien, hilflosen Politikern zu Frauen, die in panischer Angst um ihre Ehemänner und Söhne fürchten, sie isolieren und dann doch um sie trauern müssen.
Und es sei an dieser Stelle ausdrücklich festgestellt: wenn es hier wie in der Realität seit Anfang 2020 zu Quarantänen, Flugverboten, Grenzschließungen, Lockdowns und allenthalben OP-Masken kommt – die Autorin hat diesen Roman VOR Covid 19 abgeschlossen!
Und diese männermordende Viruspandemie hat schnell den Namen „Große Männerpest“ weg. Das Grauen wird global und bis zum Tag 299 der Seuche leben trotz noch so erbarmungsloser Maßnahmen nur noch zehn Prozent aller männlichen Wesen, denn nur so viele sind immun.
Frauen aus allen Schichten und Hautfarben kommen zu Worte und es ist schließlich die in lesbischer Ehe lebende kanadische Virologin Dr. Lisa Michael, die den Impfstoff MP-1 entdeckt. Doch die segenbringende Wissenschaftlerin erhält nicht nur den Nobelpreis – sie wird zugleich zur meistgehassten Frau auf dem Planeten, weil sie sich eiskalt in maßloser Weise an dem Impfstoff bereichert.
Das Alles ist aufwühlend geschrieben und kommt dabei ohne reißerische Momente oder Schwulst aus. Um so überzeugender erscheinen da nicht nur die Schilderungen der Pandemie - deren „mildere“ Realität wir ja inzwischen gut kennen – sondern auch die gravierenden Umbrüche in der gezwungenermaßen sehr matriarchalisch gewordenen menschlichen Gesellschaft mit endlosen Konsequenzen.
Packend und sehr unmittelbar ist diese Geschichte, doch trotz des immer stärker hervortretenden Gewichts sämtlicher Frauenrollen ist dies kein feministischer Roman. Ohne Milliarden von Männern wird die Welt unvollkommen und während die Frauen um Partner und Söhne trauern, müssen sie zugleich versuchen, sie neu in den Griff zu bekommen.
Fazit: ein grandioser Katastrophenroman, der durch die nach seiner Fertigstellung ausgebrochene reale Pandemie so ganz und gar aus der Sensationsecke herausgerissen und in ein erschreckend authentisch wirkendes Menetekel umgewandelt wurde.

# Christina Sweeney-Baird: Die andere Hälter der Welt (aus dem Englischen von Carola Fischer); 491 Seiten, Klappenbroschur; Diana Verlag, München; € 18

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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