JOHN le CARRÉ: „SILVERVIEW“


Als John le Carré im Dezember 2020 starb, gehörte ein Romanmanuskript zu seinen Hinterlassenschaften. Etwa 2013 begonnen, hatte er viel daran gefeilt, es aber nicht fertiggestellt und stattdessen zwei andere Romane und seine Autobiografie verfasst. Die Überarbeitung und Herausgabe nahm nun wunschgemäß sein Sohn vor, selbst unter dem Namen Nick Harkaway ein Erfolgsautor.
Nun zum 90. Geburtstag des Meisters der Spionageromane liegt der Roman als 26. le Carré unter dem Titel „Silverview“ vor und Harkaway hat beim Erscheinen angemerkt, dass er nicht nennenswert redigieren musste. Es ist mit 252 Seiten ein eher schmales Werk, enthält jedoch so ziemlich alles, was man von dem einstigen Geheimdienstler seiner Majestät erwartet.
Eingangs überbringt eine junge Frau mit Kleinkind im Auftrag ihrer sterbenskranken Mutter unter höchster Diskretion einen dicken Brief an Stewart Proctor. Dass der ältere Herr beim MI 6 für die Innere Sicherheit des Auslandsgeheimdienstes zuständig ist und sich Sorgen um ein Informationsleck in den eigenen Reihen macht, muss Lily nicht wissen. Und wie weiß auch nicht, dass ihre Mutter Deborah Avon eine hochkarätige Analystin für den Nahen Osten beim MI 6 war.
In einem anderen Handlungsstrang richtet sich Julian Lawndsley in einer Kleinstadt an der Küste eben seine eigene Buchhandlung ein. In London hatte er bereits mit 33 ein Vermögen an der Börse gemacht. Warum er nun diesen Wechsel vornahm, bleibt schon deshalb schwer verständlich, weil er literarisch reichlich unbeleckt ist.
Allerdings lässt er sich leichter Hand von dem zwar seltsamen aber auch sehr charmanten Herrn der Villa Silverview zur Einrichtung einer Art „Republik der Literatur“ im Keller seiner Buchhandlung überreden. Dieser Edward Avon als angeblicher polnischer Emigrant gehörte lange zu den Spitzenagenten des MI 6. Ausgerechnet er gerät in den Verdacht, ein Verräter zu sein. Und es war ausgerechnet seine auf den Tod kranke Frau Deborah, die seinen Kollegen Proctor auf die Spur brachte.
In diesem so typischen doppelbödigen Spiel dreht sich eine wichtige Spirale um den extrem umtriebigen Agenten „Florian“, der im Jugoslawien-Krieg offenbar mit jeder Seite kungelte. Und ganz nebenher entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen Julian und Lily, die sich ohne großes Federlesen unkompliziert näherkommen.
Dass die Handlungsstränge wie üblich aufeinander zulaufen und quasi alles mit allem zu tun hat, darf hier noch verraten werden, mehr aber nicht. Mit Proctor und Avon prallen noch einmal zwei alte Kämpen des Geheimdienstes aufeinander und doch bezweifeln sie im Rückblick, ob sie jemals wirklich etwas bewirkt haben: „als Leiter eines Jugendclubs wäre ich vermutlich nützlicher gewesen.“
Auch dieses Werk aus der Feder John le Carrés lebt ganz und gar nicht von Action, dafür um so mehr von den exzellenten Dialogen. Man wird diese typisch britische subtile Süffisanz des Erzählens, wie sie kein Anderer so beherrschte, vermissen. Fazit: sicher nicht einer seiner größten Romane, aber ein gleichwohl fast wehmütiger Abgesang auf die Glorie strahlender Geheimdienstler, die unter letztem Einsatz angeblich mal wieder die Welt vor bösen Mächten retten.

# John le Carré: Silverview (aus dem Englischen von Peter Torberg); 252 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 24

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) 

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