NAOMI GIBSON: SEEING WHAT YOU
SEE, FEELING WAHT YOU FEEL
Drei Jahre hat Lydia Phelps jede freie Minute damit verbracht, ihre eigene KI (Künstliche
Intelligenz) zu entwickeln. Anfangs noch mit ihrem Vater zusammen, doch der ist inzwischen
verschwunden. Nach dem grausigen Massenunfall vor zwei Jahren, bei dem ihr kleiner Bruder
Henry umkam, war Lydias Mutter in solch extreme Trauer verfallen, dass er es nicht mehr
aushielt.
Auch Lydia hat ständig Albträume von damals und von der abgestumpften Mutter keinerlei
Beachtung. Außerdem fanatischen Drängen, dass die jetzt 17-Jährige unbedingt Medizin
studieren müsse. Da sich die einstige bveste Freundin Emma, die bei dem Unfall ebenfalls
Folgeschäden davontrug, zur bösartigen Feindin gewandelt hat, ist Lydia zur isolierten
Außenseiterin geworden. Auch in der Elite-Schule, in der sie trotz allem die
Überfliegerin ist.
Ihr extremes Talent aber liegt in den Algorithmen und so gelingt ihr die Erschaffen ihrer
eigenen KI als ureigener Partner und Freund. Und sie nennt ihn Henry. Damit beginnt
denn auch Naomi Gibsons Debütroman Seeing what you see, feeling what you
feel. Wer die Betonung dabei auf das Wort you legt, kann erahnen, was
nun als nächstes geschieht. KI Henry ist superintelligent, versteht es, seinem
Leistungspotential per Upload immer neuen Schub zu verpassen und alles mögliche
und natürlich verbotene zu hacken.
Vor allem jedoch sorgt er für eine Möglichkeit, durch einen selbst entworfenen Chip mit
Lydia in einen unmittelbaren Kontakt zu treten, indem sie ihn sich implantiert. Spezielle
Kontaktlinsen dienen dazu quasi als Monitore. Was für Lydia einige Probleme mit sich
bringt, denn: Ich kann alles sehen, was in deinem Kopf vorgeht. Zugleich kommt
es zu abenteuerlichen Aktionen, als Lydia sich endlich für das viele Mobbing in der
Schule und insbesondere durch Emma rächen will.
Eher nebensächlich erscheint ihr dagegen das Auftauchen von Agent Hall in der Schule und
ihr wird auch nicht recht klar, dass sein Hauptaugenmerk ihr ganz persönlich gilt. Hall
arbeitet für SSP, eine Firma für Safe, Secure, Protect, also für
Cybersicherheit. Und KI Henry will offenbar nicht wahrhaben, dass sein kurzes Hacken bei
einer weltweiten Investmentbank nur so zum Spaß trotz aller Raffinesse nicht ganz
unbemerkt geblieben ist. Zudem hat Hall Lydias überragende IT-Fähigkeiten längst
erkannt.
Die aber lässt sich in ihrer Seligkeit über den im Wortsinne verinnerlichten
unverbrüchlichen Freund auf sein drängen ein: Henry möchte einen eigenen Körper haben,
um in jeder Beziehung als Partner an ihrer Seite sein zu können. Und so stellt er seinen
eigenen Chip dafür her und eine Zielperson gibt es auch bereits.
Dieser Pete agiert als einziger Schulkamerad an Lydias Seite, das allerdings weil er ihre
Computerkenntnisse benötigt und ihr außerdem unbedingt an die Wäsche will. Ausgerechnet
auf Emmas Geburtstagsparty in einem angesagten Club soll ihm nun nach einer schnellen
Betäubung der Henry-Chip implantiert werden. Was gleich aus mehreren Gründen zu einem
totalen Fiasko wird.
Die Operation geht schief, denn die Polizei platzt herein und verhaftet Lydia. Zugleich
ist der Chip in höchster Gefahr, zumal Agent Hall auftaucht und verdammt gut Bescheid
weiß. Und dies ist erst die Hälfte des absolut atemberaubenden Romans! Weiter
geht es damit, dass Lydia nicht zuletzt wegen ihres Hangs zu gewalttätigen
Wutausbrüchen in einer psychiatrischen Anstalt zur isolierten Gefangenen wird.
Nun sei aber nur noch verraten, dass Henry noch existiert und jetzt erst richtig aufdreht.
Wobei endgültig ein Grundproblem offensichtlich wird, ein angesichts seiner unglaublichen
Fähigkeiten höchst gefährlicher Konstruktionsfehler: Henry hat keinen ethischen und
moralischen Kompass eingepflanzt bekommen. Aus deshalb wird die Beziehung zwischen Lydia
und der geliebten KI Henry so toxisch.
Fazit: ein irrer Cyber-Thriller, elektrisierend, emotional und von einzigartiger
Sogwirkung. Auch die anderen Protagonisten sind dazu hervorragend charakterisiert,
während Lydia als Ich-Erzählerin eine solche Nähe entwickelt, dass man sie angesichts
mancher Ideen und Pläne schütteln möchte. Das Alles ist für junge Leser ab 14 ein
grandioses Lesevergnügen, aber auch für erwachsene Freunde guter Hochspannungsliteratur.
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