CHARLIE GILMOUR: „ELSTERJAHRE“


Charlie Gilmour hat in der Schriftstellerin und Textdichterin Polly Samson und seinem Adoptivvater, dem berühmten Pink Floyd-Musiker David Gilmour, liebevolle Eltern. Sie gaben ihm die Geborgenheit einer Familie.
Dennoch war da diese brennende Sehnsucht nach dem quasi unbekannten leiblichen Vater Heathcote Williams (1941-2017). Dass er Interesse zeigt und vielleicht sogar Nähe oder gar Gefühlsregungen. Alles was Charlie von ihm kennt, ist dieses „verwirrende und widersprüchliche Porträt des Mannes...der mir das Leben schenkte und sich dann davonmachte.“
Was der sensible junge Mann auf seiner Suche nach dem Vater erlebte, ist jedoch nur ein Strang der einzigartigen Memoiren, die mit Anfang 30 verfasst hat. Der Titel lautet nämlich nicht von ungefähr „Elsterjahre“. Es war Charlies Partnerin und jetzige Ehefrau Yana, die eines Tages ein verwaistes Elsternjunges mit nach Hause brachte und sich gegen jede Hoffnung daranmachte, diesen „schwarzweißen Flaumball von der Größe einer Kinderfaust“ aufzuziehen.
Yana, die Starke, die Unverwüstliche, ist Bühnenbildnerin und jetzt seit zwei Jahren mit Charlie zusammen. Als sie nun einen Auslandseinsatz bekommt, soll das zu einem Wendepunkt in Charlies Leben werden – wegen Benzene, wie die Beiden das Elsternjunge inzwischen getauft haben. Jetzt beginnt Charlies Rolle als derjenige, der den Vogel immer engagierter pflegt und füttert, ihm alle möglichen typischen Verrücktigkeiten im Verhalten durchgehen lässt. Und dabei alles über diese intelligenten Rabenvögel lernt und mit großartiger Prosa beschreibt. Wobei sich schließlich eine erstaunliche Vorläufergeschichte offenbart: auch sein leiblicher Vater zog in jungen Jahren einen Rabenvogel auf und nannte ihn Jack Daw.
So liebevoll Heatcote Williams, in den 60er Jahren eine wildmähnige Ikone des Underground und auch später als exzentrischer, charismatischer und ungeheuer kreativer Dichter, Revolutionär und schräger Anarchist, dem Vogel auch ein Vater gewesen sein – für Charlie wurde er das Gegenteil. Er war schon Ende 40, als er die junge Polly Samson, seitens seines Verlages für ihn zuständig, zu seiner Geliebten machte. Wobei er wohlweislich überging, dass er Frau und Töchter hatte.
Als Charlie geboren wurde, sei Heathcote ein verrückter aber wundervoller Vater gewesen. Bis er nach eben sechs Monaten reißaus nahm und jahrelang jeden Kontakt zu seinem Sohn vermied: „Nach dem Zerbrechen der Beziehung schnitt Heatcote Williams mich und meine Mutter aus seinem Leben heraus wie ein Krebsgeschwür.“ Erst nach mehreren gescheiterten Versuchen einer Annäherung gelang Charlie zumindest eine distanzierte komplexe Kommunikation.
Es waren jedoch völlig herzlose Bemerkungen, die sein Erzeuger - „Du warst halt ein Unfall“ - bei einer persönlichen Begegnung machte, die Cahrlie in selbstzerstörerische Probleme warfen. Depressionen, Drogen, Ausraster und Exzesse, die ihn sogar für Monate in den Knast brachten. Da ist es erst Yana und dann diese einzigartige Elsternbeziehung, die Charlie wie auch dem Vogel Stärke und innere Freiheit gibt.
Und ihn in seiner ungestillten Sehnsucht nach Heimat und dem unverwmindert bohrenden Gefühl des Verlusts erneut die Annäherung an den flüchtigen Vater versuchen lässt. Es kommt zu skurrilen bis makabren Besuchen am Krankenbett des greisen Künstlers. Charlie lernt nicht nur die schwierige und kaum zu fassende Eigenart dieses seelisch völlig labilen Menschen kennen sondern auch seine beiden älteren Halbschwestern.
Die Beerdigung von Heathcote Williams beschreibt Charlie als ein seltsam absurdes Ereignis. Für ihn aber geht es aufwärts und manchmal gelingt elterngeschädigten Menschen ja das Gegenteil des Erlittenen: so zählt die Schilderung der Geburt von Tochter Olga mit den so ganz anderen Gefühlen dafür als sein Erzeuger zu den großartigsten und bewegendsten Passagen dieser zutiefst menschlich fesselnden Memoiren.
Und am Ende steht nicht nur die Befreiung und das Familienglück Charlies: als wäre sie für seine weitere seelische Genesung nun nicht mehr vonnöten, kehrt Benzene eines Tages von einem ihrer Ausflüge in die Freiheit einfach nicht mehr zurück. Fazit: ein grandioses Buch in einer hervorragenden Übersetzung und als Meisterwerk des Nature Writing ganz nah an den Qualitäten von Helen Macdonalds „H wie Habicht“.

# Charlie Gilmour: Elsterjahre (aus dem Englischen von Christel Dormagen); 316 Seiten; Rowohlt Hundert Augen, Hamburg; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: NF 401 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de