MARKUS THIELE: DIE WAHRHEIT
DER DINGE
1989 ist Corinna Maier Studentin und hoch verliebt in den afrikanischen Mediziner Steve.
Ein Jahr später und eben hochschwanger muss sie erleben, dass Rechtsradikale Steve zu
Tode prügeln. Unbegreiflich aber Tatsache die Täter erhalten ein paar Jahre Haft
wegen Körperverletzung mit Todesfolge.
Dieser so schwer zu ertragende Verlust und die milde Strafe dafür bleiben jedoch nicht
die einzige unerträgliche Erschütterung für Corinna. In einem unfassbaren
Doppelschicksalsschlag wird ihr Sohn, Steves Sohn, 20 Jahre später Opfer eines
fremdenhassenden Mörders. Doch nicht noch einmal will sie sich mit Milde für den Täter
abfinden müssen.
Und dafür sorgt sie im Prolog zu Markus Thieles neuem Roman Die Wahrheit der
Dinge. Am 25. Oktober 1990, dem 34. Verhandlungstag, soll im Landgericht Hamburg das
Urteil verkündet werden. Aber noch bevor der vorsitzende Richter Frank Petersen auch nur
das erste Wort sprechen kann, zieht Corinna eine Pistole und erschießt den Angeklagten.
Vorbild für den ermordeten steve war der echte Fall des Angolaners Antonio Kiowa in
Eberswalde von 1990, während Corinna aus ähnlichen Motiven handelt wie 1981 Marianne
Bachmeier, die den Mörder ihrer kleinen Tochter im Gerichtssaal erschoss. Wie sie erhielt
Corinna nun eine mehrjährige Freiheitsstrafe, jedoch trotz ihres Aktes der Selbstjustiz
nicht als Mörderin.
Für Richter Petersen bleibt es gleichwohl ein traumatisches Erlebnis. Und nun im Jahr
2015 haben sich die Dinge für den von sich und seiner streng professionellen
Rechtsauslegung überzeugten Strafrichter zugespitzt. Bereits zum vierten Mal hat der
Bundesgerichtshof eines seiner Urteile aufgehoben. Doch was ihn noch mehr erschüttert als
diese Zweifel an der Objektivität seiner Rechtsprechung, ist der Bruch mit Frau und Sohn,
die beide ausgezogen sind.
Sie werfen ihm Gefühlskälte und Vorurteile vor, aber auch dass ihn in seinem Übereifer
sein Beruf längst wichtiger ist als sie. In seinen großen Selbstzweifeln versucht
Petersen dann, die Wahrheit zwischen Recht und Gerechtigkeit zu finden.
Den Weg dorthin sucht er bei Corinna, die jetzt aus der Haft entlassen wird. Wodurch nun
immer mehr Licht in die Hintergründe der Geschehnisse kommt. Und Petersen mit der
Feststellung eines klugen Mannes konfrontiert wird: Die Wahrheit der Dinge ist die
Summe ihrer Unwahrheiten.
Als Jurist kennt der Autor die sachliche Ebene bestens, hier jedoch taucht er auch in die
moralische ein. Und lässt nachdenken über Rechtsprechung und Selbstjustiz, aber quasi
nebenher auch über das nach wie vor übele wabernde Gespenst des Rechtsextremismus.
Fazit: ein kluger Roman, der nicht nur dank der realen Vorbilderfälle ebenso spannend wie
authentisch ist.
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