JULI ZEH: ÜBER
MENSCHEN
Mit ihrem neuen Roman Über Menschen knüpft Juli Zeh schon vom Titel her an
ihren Bestseller Unterleuten an. Wieder spielt das Geschehen in der
brandenburgischen Provinz, in der die gebürtige Bonnerin selbst seit Jahren lebt. Erneut
auf seine Art ein politischer Heimatroman, ist er gleichwohl strukturell deutlich anders
angelegt.
Im Mittelpunkt steht Dora Korfmacher, 36 und erfolgreiche Werbetexterin in Berlin. Nun
aber zieht sie um nach Bracken/Prignitz, mit 284 Einwohnern zu keloin, um ein richtiges
Dorf zu sein. Von einem bescheidenen Erbe und Erspartem hat sie sich ein
heruntergekommenes Häuschen am Dorfrand gekauft. Mit 4000 Quadratmetern Grundstück, ein
sogenanntes Flurstück mit Wildwuchs.
Es wird kurz nachvollziehbar gemacht, warum die sehr liberal aufgewachsene Tochter eines
Neurologie-Professors ihren langjährigen Freund Robert geradezu fluchtartig verlassen
hat. Der freie Journalist war ohnehin ein Prediger von Bio und Mülltrennung und
glühender Anhänger Greta Thunbergs. Doch man schreibt das Jahr 2020 und eben wurde
Covid19 zur Pandemie erklärt.
Für den Apokalyptiker eine Segensbotschaft und während seine Einsätze ruh- und rastlos
werden, erwartet er von seiner durchaus grün denkenden Partnerin Gefolgschaft. Doch:
Dora mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf
stützen. Und nun Lockdown und mit einem egozentrischen Messias Home-Office in der
Mietwohnung nicht auszuhalten.
Um so heftiger dann der Schock bei der ersten Begegnung mit ihrem direkten neuen Nachbarn
über die Mauer hinweg. Dieser hünenhafte Glatzkopf namens Gote stellt sich mit dem
trockenen Verkündung vor: Ich bin hier der Dorf-Nazi. In Doras Augen ist
Nachbarschaft sowieso eine Form von Zwangsehe, aber die nun auch noch mit einem Neonazi?!
Zu seinem prolligen Auftreten passt denn auch, dass er Jochen-der-Rochen über
die Mauer zu ihr zurückwirft. Trotz des Namens übrigens eine Hündin undefinierbarer
Provenienz. Das Klischee des Nazis ist also eingeführt, doch bei dieser Autorin darf man
erwarten, dass es gründlich aufgesplittert wird, Wobei Dora von anderen Dörflern
politisch eingenordet wird: Also keine Nazis in Bracken. Nur ein bisschen gepflegter
Alltagsrassismus. Passt irgendwie, wo selbst der Schwule im Dorf mangels Alternative
AfD gewählt hat.
Der kleine Kosmos eröffnet Dora seine ganze Unausweichlichkeit und Gegenwärtigkeit.
Gerade das Nebeneinander mit Gote hat ein unentrinnbares Miteinander. Mal baut ihr der
gelernte Tischler Gote ungefragt Möbel fürs leere Haus und trägt sie ebenso ungefragt
in ihre Zimmer. Wobei ohnehin offenbar jeder im Dorf sich mit ihrem neuen Zuhause
auskennt, denn das war früher der Kindergarten im Dorf.
Dora lernt viel echtes, normales Leben kennen, Alltagsprobleme ganz normaler Dörfler hier
in der wirtschaftlich abgehängten Provinz mit viel brandenburgischer Tristesse. Und
während Gote schon mal nachts mit seinen Kumpels das Horst-Wessel-Lied grölt, staunt
Dora über den liebevollen Umgang des rauen Kerls mit seiner zehnjährigen Tochter aus der
gescheiterten Ehe.
Und diese Franzi, ungebärdig wie eine Pippi Langstrumpf, wächst Dora mit ihrer
Direktheit und ihrer Begeisterung für Jochen-der-Rochen schnell ans Herz. Andererseits
stößt sie immer wieder auf Unerträgliches in diesem auf eng gestrickten Kosmos, aber
sie ist ja entschlossen, dieses neue selbst Leben gut zu finden.
Mit hinreißenden Szenen und Sätzen entlarvt sie die Verbohrtheiten der Dörfler mit
spitzfindigen Gedankengängen. Die zugleich mit bestechender Logik viel Absurdes
bloßlegen gerade auch bei den wilden Aktivitäten messianisch aufgeheizter grüner
Nachhaltigkeit. Klischee, ick hör dir trapsen! Und dann bringt es Steffen, der mit seinem
Partner im Dorf-Exil hausende und durch Corona ausgebremste Kabarettist auf den Punkt.
Über Menschen heißt sein aktuelles Programm und natürlich hat er dabei an
Nietzsches Übermenschen gedacht. Die eben auch hier herumgeisternden Übermenschen aus
der Unterschicht im schicken Feinripp-Unterhemd. Doch so plakativ vieles daherkommt, so
tiefgründig ist es auch, wie es die Klischees enttarnt und zerbröselt.
Und längst hat sich Nazi-Nachbar Gote auf einzigartige und doch irgendwie natürliche
menschliche Weise in Doras Leben gedrängt. Als dann jedoch das Schicksal zuschlägt,
bringt es Steffen auf den Punkt: Er war ein Arsch. Aber einer von uns.
Eine faszinierende Gratwanderung in einem zwiegespaltenen Land mit ungeheuer starken
Figuren, dichter Atmosphäre und immer wieder hinreißend formulierten Sätzen ist Juli
Zeh hier gelungen. Und es ist der erste große Corona-Roman, der diesen Namen verdient.
Fazit: auch wenn Über Menschen nicht ganz die komplexe Klasse seines
Vorgängers hat und deutlich gradliniger ist, bereitet er ein großes, anspruchsvolles
Lesevergnügen, das lange nachhallt. Und ganz gewiss manche Diskussion lostreten wird.
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