PHILIP KERR: „1984.4“


Drei Jahre vor seinem viel zu frühen Tod hatte der britische Erfolgsautor Philip Kerr (1956-2018) eine Parabel auf George Orwells dystopischen Klassiker „1984“ verfasst. Die geriet zwar wegen anderer Buchprojekte in Vergessenheit, doch hatte er das Manuskript glücklicherweise an Christiane Steen, die Leiterin des Kinder- und Jugendbuchs beim Rowohlt-Verlag, weitergereicht.
Nun liegt der dystopische Jugendthriller unter dem Titel „1984.4“ vor und eröffnet erschreckende Visionen. Er spielt im Jahr 2034 und wie vor 50 Jahren hat der Staat die totale Kontrolle über Leben und Tod. Überwacht wird jeder einzelne Bürger vom ATC, dem allwissenden Alan-Turin-Computer. Jeder trägt sein Wristpad und wird durch den implantierten PIT, den passiv integrierten Transponder, begleitet.
Im Gegensatz zur düsteren aber nahezu perfekten Welt von Orwells 1984 geht es 2034 jedoch – zumindest aus heutiger Sicht – weniger futuristisch zu. Krankheiten sind quasi eliminiert, doch er allumfassende Wohlfahrtsstaat leidet unter dem Problem von Überbevölkerung und Unterversorgung. Und hier setzt die perfide Gegenwart des Geschehens ein, in der eine leitende Beamtin der Geheimpolizei einer neuen Agentin erklärt: „Es gibt eine Alten-Epidemie in diesem Land, und die muss streng kontrolliert werden.“
Florence mit ihren gerade 16 Jahren hat soeben das Basistraining für den gut bezahlten Job als „Ruhestands-Vollstreckerin“ absolviert. Grundsätzlich fordert das System, dass sich Bürger ab 75 oder bei festgestellter vorzeitiger Demenz per Euthanasie aus dem Leben verabschieden. Da sich nicht alle an diese bürgerliche Pflicht halten, braucht es RUVs wie Florence, die dann mit der Schusswaffe einschreiten.
Was auch mal gefährlich werden kann, denn manche Alte tarnen ihren wahren Zustand nicht nur sondern wheren sich sogar mit Waffengewalt. Mit Gewissensbissen wegen solcher Vollstreckungen hat Florence keine Probleme, denn die jeweils zwischen 16 und 21 Jahre alten Agenten des Senioren-Service werden nicht nur auf Emotionslosigkeit getrimmt, sie haben die entsprechende Indoktrinierung dieser Regelungen voll verinnerlicht.
„Für die meisten jungen Leute im Jahr 2034 bedeutet Alter, ein nutzloses und schrecklich verschrumpeltes Wesen zu sein, das weggeworfen gehörte wie ein verfaulter Apfel.“ Über all dem thrint ihm Übrigen das allgegenwärtige Antlitz von WINSTON und jeder weiß: „Winston beobachtet dich“. Deshalb gilt auch allgemein das KDT-Prinzip, dass Kritisches kein Diskussionsthema ist: „Winston würde das nicht billigen.“
Florence erlebt bei ihrem ersten echten Einsatz ein Fiasko durch um sich schießende Zielpersonen, doch auch truppenintern geht es rau zu mit drakonischen Strafen . Natürlich ist das zynisch und sadistisch, aber staatlicherseits auch sinnvoll und notwendig. Bis die so kalt funktionierende Florence erst erfährt, dass bei ihrer Mutter mit eben 51 Jahren ein Ansatz früher Demenz entdeckt wurde und ihr ein Termin für die freiwillige Euthanasie in 14 Monaten genannt wurde.
Dann stößt die Killerin im Staatsdienst nach einem rabiaten Einsatz zufällig auf den Antiquitätenladen des klugen alten Mr Charrington. Der sie mit unbekannten alten Dingen bekannt macht, vor allem aber mit Impulsen für „geheime Gedanken“. Und zugleich lernt sie nach einer denkwürdigen Altenjagd Eric Blair kennen, 19 Jahre alt, unglaublich schön und in einer Außenseiterrolle als staatlicher Unterhaltungskünstler lebend.
Zwischen den Beiden funkt es sofort mit intensivsten Gefühlen, die die auf Coolness trainierte Florence völlig irritieren. Der Sturm neuer Gedanken und ungeahnter Gefühle wirft ihr Leben so sehr über den Haufen, dass sie an Revolution denkt. Und ihre Tarnung soll ihre schwarze RUV-Uniform sein.
So minimal ihre Chancen auch sein mögen: jeder noch so lange Marsch beginnt mit dem ersten Schritt. - Fazit: ein packender Roman von beängstigender Realitätsnähe, der ganz lange nachhallt und gewiss nicht nur junge Leser ab etwa 15 zutiefst beeindrucken dürfte.

# Philip Kerr: 1984.4 (aus dem Englischen von Uwe Michael Gutzschhahn); 320 Seiten; Rowohlt Rotfuchs, Hamburg; € 16

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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