HARALD MARTENSTEIN: „WUT“


Im Prolog seines jüngsten Romans „Wut“ schildert Erfolgsautor Harald Martenstein, wie er die Wohnung seiner Mutter ausräumt, nachdem sie wegen Demenz ins Heim musste. Und der beliebte Zeitungskolumnist mit der scharfen Zunge schärft dem Leser ein, dass dies eben doch ein Roman und keine Biografie sei.
Der beginnt mit deprimierenden Szenen, denn Ich-Erzähler Frank umreißt seine Alltagstristesse mit Mutter Maria, die ihre ständig aufkochende Wut mit heftigen Ohrfeigen, Anspucken und übelsten Beschimpfungen und Demütigungen an ihm auslässt. Unberechenbar kommen die Attacken und stets lässt sie keinen Zweifel daran, dass er für ihr Unglück verantwortlich sei.
Für Frank ist das selbst mit 12, 13 völlig unverständlich und seine einzige Gegenwehr ist, dass er nie weint, schließlich sogar unter Ohrfeigen lacht. Doch was macht ein solches Dauerfeuer mit einem jungen Menschen? Jetzt als Erwachsener lebt er beziehungsunfähig und die unerlässlichen Verdrängungsmechanismen mündeten in ein schlechtes, lückenhaftes Gedächtnis.
Als verwirrendes Phänomen stellt er dazu fest, wie es sein kann, dass er jemanden, der ihn ständig misshandelt und erniedrigt hat, dennoch liebt: „Irgendwie hat man die Schläge ja vielleicht verdient.“ Eines aber weiß er genau – diese Wut, die er jetzt ständig in sich trägt, die hat er von ihr übernommen.
Und dann gibt es an seinem 17. Geburtstag die Eskalation. Diesmal kontert er ihre Wutattacke mit einer schallenden Ohrfeige, springt aus dem Fenster und verschwindet. Doch bevor der Leser reißaus vor so viel einseitiger Finsternis einer schlimmen Kindheit nimmt, erfährt man endlich auch von der Jugend dieser gewalttätigen und männerverschleißenden Frau.
Ihre Geburt stand unter keinem guten Stern mit einer 18-jährigen Herumtreiberin als Mutter. Mit 13 dient Maria in der soeben angebrochenen Nachkriegszeit als Lockvogel im Bordell ihrer Tante. Immerhin ermöglicht die ihr den Besuch einer Klosterschule und das Mädchen träumt mit ihrer Intelligenz und Energie von einem Studium. Um sich dann auf den Elektriker Richie einzulassen und alles zu schmeißen. Mit 18 heiratet sie ihn und nach vier Jahren ist sie die ständigen illegalen Abtreibungen leid und Frank wird geboren. Als unerwünschter Bremsklotz ihrer Lebensträume und als solcher ständig vor ihren Augen. Diese lebensprallen Schilderungen führen dabei keineswegs zu ihrer Absolution, eine Erklärung aber sind sie allemal.
Das Geschehen jedoch geht jetzt in seinen Zeitsprüngen zunehmend über in eine mitreißende und teils ans Absurde grenzende Achterbahn. Frank wird einigermaßen erfolgreich, sein Privatleben dagegen bleibt erratisch mit allerlei Volten. Die Beklemmung des Einstiegs ist dabei längst durch den herben, oft drastischen Humor in die Atmosphäre einer ebenso verrückten wie ernstzunehmenden Tragikomödie übergegangen.

# Harald Martenstein: Wut; € 269 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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