EDNA O'BRIEN: „DAS MÄDCHEN“


„Ich war einmal ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr.“ Das ist der erste Satz in Edna O'Briens neuem Roman. Die das sagt, heißt Maryam und hat ein ein extremes Schicksal hinter sich.
Es ist Fiktion, doch dahinter stecken unfassbare reale Ereignisse, für die die große irische Schriftstellerin im Alter von 88 Jahren eine langwierige und höchst beschwerliche Reise nach Nigeria für gründliche authentische Recherchen auf sich genommen hat. „Das Mädchen“ lautet der schlichte Titel und in der Tat ist diese Maryam eine sehr reale Stellvertreterin der vielen Mädchen und jungen Frauen, denen derartig Entsetzliches immer wieder widerfährt.
Da stürmen Männer in den Schlafsaal der Mädchenschule in einem Dorf im Nordosten des Landes. Gekleidet wie Soldaten, sind es jedoch Mitglieder der verbrecherischen Boko-Haram-Horden. Jungen wollten sie mitnehmen als Rekrutennachwuchs, außerdem Ersatzteile und Benzin.
Als sie nicht fündig werden, bedienen sie sich kurzerhand bei den Schülerinnen und entführen sie in ihr Lager in einer unbekannten Region.
Als erstes erleben die Entführten den Auftritt des großkotzigen obersten Emirs, der die Mädchen „als die werdenden Töchter Allahs willkommen“ heißt. Den einschüchternden Litaneien folgt die Initiation der 15 neuen Sklavinnen, indem sie von dem „Gesindel in Militärkleidung“ öffentlich mit Niedertracht und unbarmherziger Brutalität vergewaltigt werden.
Was aber erst der Anfang ist, denn alle werden tägliche Opfer übelster Männergelüste. Und schon früh erlebt die höllische Gefangenschaft einen barbarischen Höhepunkt: die Mädchen als gezwungene Zuschauer und sämtliche Männer als johlende Mittäter nehmen eine Steinigung vor. Die schöne und bis dahin sehr selbstgefällige Frau des Emirs wird dieser archaischen Hinrichtungsform wegen Ehebruchs unterzogen – quälend realistische Szenen, die einem den Atem stocken lassen.
Maryam hat schließlich nach tagelangen Reihenvergewaltigungen in einer der primitiven Zellen das zweifelhafte Glück, einem verdienten Kriegshelden „vermählt“ zu werden. Tatsächlich erleichtert es ihre Elendszeit insofern, dass dieser Mahmoud relativ wenig gewalttätig veranlagt ist. Vor allem aber muss sie nur noch den Gelüsten eines Mannes gerecht werden und auch das nicht täglich. Allerdings bleibt auch das nicht ohne Folgen und sie bringt unter Qualen unter primitivsten Bedingungen ihre kleine Babby zur Welt.
Das Hauptmartyrium endet endlich bei einem Luftangriff der Regierungstruppen auf das Lager, bei dem ihr gemeinsam mit der Leidensgenossin Buki die Flucht gelingt. Mit der eine Odyssee voller Strapazen beginnt, auf der die geschädnete junge Frau allerdings auch unvermutete Hilfsbreitschaft und Mitgefühl erlebt. Und wirklich schafft sie sogar die Heimkehr, die jedoch einen bitteren Beigeschmack bekommt.
Während die Regierung Maryam als Vorzeigeobjekt feiert, einer Frau, der die Flucht aus den Fängen von Boko-Haram gelang, tut sich die eigene Familie schwer mit den Begleitumständen: sie kommt mit einem unehelichen Baby und das ist auch noch die Frucht des Feindes. Vor allem aber – wie soll eine junge Frau nach solchen körperlichen und psychischen Torturen ihr Seelenheil wiederfinden? Und ein gewisses Maß an Würde?
Es ist ein mutiger Roman, den die große alte Dame hier verfasst hat und die ganze Meisterschaft liegt in der präzisen, unerbittlich realistischen Schilderung der Geschehnisse. Das ist einerseits in vielen Passagen nur schwer zu ertragen,. Andererseits konnte dieses ungemein wichtige und aufwühlende Buch nur von einer Frau in solch ernstzunehmender geschrieben werden.

# Edna O'Brien: Das Mädchen (aus dem Englischen von Kathrin Razum); 253 Seiten; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; € 23

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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